Gedenken an Schreckensnacht Fakten zu Herschel Grynszpan in der Budge-Stiftung

Der Redner Michel Bergmann (zweiter von links) zündet die erste Kerze des Gedenkens an, links neben ihm Thorsten Krick, rechts Michael Diedrich. Foto: Faure

Seckbach (jf) – „Wir teilen die Vision, dass ein harmonisches Zusammenleben der Menschen möglich ist“, hieß es im gemeinsamen Gebet von Pfarrerin Gisa Reuschenberg, Diakon Franz Reuter und Rabbiner Andrew Steiman, mit dem die Gedenkstunde an die Pogromnacht vom 9. November 1938 in der Budge-Stiftung begann.

Thorsten Krick, Geschäftsführer der Henry und Emma Budge-Stiftung, stellte fest: „Die Erinnerung schmerzt.“ Neben Vertretern von diversen Organisationen und Einrichtungen nahmen Studierende der Erziehungswissenschaften mit ihrem Professor Benjamin Ortmeyer an der Gedenkstunde teil. Erstmals konnte mit Michel Bergmann ein Journalist, Schriftsteller und Drehbuchautor als Festredner begrüßt werden.

Anfeindungen bereits in Frankfurt

„Der 9. November ist ein geschichtsträchtiges Datum; erinnern wir uns an die Novemberrevolution 1918, an den Hitler-Putsch 1923, an den Fall der Mauer 1989. Doch kein anderes Ereignis überschattet dieses Datum so wie die Pogromnacht“, leitete Bergmann seine Rede ein. Er wandte sich Herschel Grynszpan zu. 1921 in Hannover geboren, war er ein polnischer Staatsbürger jüdischen Glaubens. „Ein folgsamer, hilfsbereiter Junge“, sagten Nachbarn später über ihn. Nach der Volksschule ging er nach Frankfurt, studierte dort Tora und Talmud in einer Jeschiwa, brach die Schule aber nach elf Monaten ab. Bereits in Frankfurt setzten ihm Anfeindungen der erstarkenden Hitleranhänger zu. „Man sollte sich wehren“, äußerte Grynszpan in Gesprächen mit Kommilitonen.

Von Frankfurt führte ihn sein Weg zu einem Onkel nach Brüssel, dann 1936 illegal weiter zu einem anderen Onkel nach Paris. Über zwei Jahre versuchte er vergeblich, in Frankreich eine Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten. Inzwischen wurden seine Eltern aus Deutschland nach Polen zwangsausgewiesen, eine Karte seiner Schwester informierte Herschel Grynszpan darüber. Am 6. November 1938 verließ er das Haus seines Onkels, schrieb an seine Eltern: „Das Herz blutet mir, ich muss protestieren, ich kann nicht anders.“ Er verschaffte sich, mit einer Pistole bewaffnet, am 7. November Zutritt zur Deutschen Botschaft in Paris, verletzte den Botschaftssekretär Ernst vom Rath lebensgefährlich.

Spur verlor sich, er wurde für tot erklärt

Zwei Tage später, am 9. November, starb vom Rath. „Das war der Vorwand für lange geplante Aktionen gegen jüdische Einrichtungen“, erklärte Michel Bergmann. Grynszpan saß zunächst in Frankreich im Gefängnis und wurde 1940 an Deutschland ausgeliefert, obwohl er keine deutsche Staatsbürgerschaft besaß. Ein Schauprozess sollte stattfinden, doch homosexuelle Aspekte bezüglich Ernst vom Raths hätten dabei auch eine Rolle spielen können. Das galt es zu verhindern. Also wurde der Prozess im Juli 1942 abgesagt. Die Spur von Herschel Grynszpan verlor sich. 1960 wurde er in der Bundesrepublik vor einem Gericht auf Antrag seiner Eltern, die wie sein Bruder den Holocaust überlebt hatten, offiziell für tot erklärt.

„Die meisten Juden hielten ihn für verantwortlich für die Pogromnacht. Einige sahen ihn allerdings auch als Held“, schloss Michael Bergmann. Jeder müsse sein Urteil über Grynszpan selbst fällen. Anschließend wurden in einer bewegenden Zeremonie sechs Kerzen angezündet für die sechs Millionen Juden, die im Holocaust ermordet wurden. Vor dem gemeinsamen Kaddisch bat Heinz Hesdörffer, der Zwangsarbeit, Konzentrationslager und Todesmarsch überlebt hatte, um ein Wort und sagte: „Herschel Grynszpan ist nicht verantwortlich für die Pogromnacht, die war von langer Hand vorbereitet. Er ist einer von uns.“