Ein Portrait Rudolf Heinemann setzt sich für Schwächere ein

Rudolf Heinemann vor der Glaswand der Erinnerungsstätte Großmarkthalle – er hat sich jahrelang für dieses Mahnmal eingesetzt. Foto: Faure

Ostend (jf) – Braungebrannt, weißer Vollbart, heller Strohhut, rotes Hemd, helle Hose. Dass Rudolf Heinemann bald seinen 80. Geburtstag feiert, sieht man ihm nicht an. Ruhestand? Dieser Begriff scheint in seinem Wortschatz zu fehlen. Bücher könnte er schreiben über sein Leben. Sagt er. Tatsächlich hat er eine Geschichte geschrieben

Sie wurde im zweiten Teil der Anthologie „Kriegskinder“ veröffentlicht. Die Broschüre erschien 2016 mit Unterstützung des Paritätischen und des Günter-Feldmann-Zentrums. Auch ein Schwarz-Weiß-Foto ist abgedruckt, es zeigt den kleinen Rolf, wie er von allen gerufen wird, als etwa Vierjährigen, auf einer geflochtenen Truhe sitzend, mit einem kleinen Teddy in der Hand. Im Hintergrund die Waschkommode.

Der Vater war 13 Monate nach Rudolfs Geburt gestorben, die Mutter hatte das „Frankfurter Kaufhaus“ in Kelkheim, ein Geschäft für Textil- und Kurzwaren, fortan alleine zu führen. Dazu musste sie sich um ein Kleinkind und die Erbschaftsprobleme mit den zwei 1901 und 1902 geborenen Brüdern aus der ersten Ehe des Vaters kümmern. „Der Tod war sein Glück, mein Vater musste nicht mehr miterleben, wie seinem jüdischen Freund Arnold Hirsch die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt wurde“, sagt Heinemann.

Die Mutter pflegte lange Kontakt zu dem ebenfalls jüdischen Robert Zunz, der in Dachau war. Als er, vom Lager gezeichnet, zurückkam, bat er die Mutter, ihn nicht mehr zu besuchen – es sei zu gefährlich für sie. „Die Eltern hatten immer ein gutes Verhältnis zu den Kunden und Lieferanten, es war völlig egal, welcher Religion sie angehörten. Das jedenfalls hat mir meine Mutter erzählt“, sagt Heinemann. Rudolf ging in den Kindergarten, später in die Volksschule.

Russische Zwangsarbeiterinnen in Erinnerung

In der Nähe des Wohnhauses befand sich die Stuhlfabrik Escher, dort waren russische Zwangsarbeiterinnen beschäftigt. „Sonja und Dunja hießen sie. Eine von ihnen, die vorher in Russland Lehrerin war, kam in der Dunkelheit zu uns nach Hause und brachte mir die Zahlen von eins bis 100 auf Russisch bei, bis zur Zahl vier weiß ich sie noch“, sagt Heinemann. Sicher seien sie umgebracht, die Unterlagen vernichtet worden, vermutet Heinemann, wischt sich über die Augen.

„Es ist schwierig, über solche Schicksale nachzuforschen. Aber ich möchte immer noch etwas über die Menschen erfahren, die ich gerne näher kennengelernt hätte“, sagt der Mann mit dem weißen Bart und dem wachen Blick. 1998 starb Rudolf Heinemanns Mutter. „Erst dann waren Nachforschungen möglich“, sagt der Sohn. Ob er selbst jüdische Wurzeln habe, wisse er nicht, nur so viel: „Meine Mutter brauchte 28 Urkunden, um 1937 meinen Vater heiraten zu können.“

Fahrradreise nach Freiburg

Sehr gut ist ihm seine erste Fahrradreise 1954 zu den Großeltern nach Freiburg-Munzingen in Erinnerung geblieben. „Drei Tage habe ich von Kelkheim aus gebraucht“, sagt er. In Munzingen holte er Mutters Schwester mit drei weiteren Personen ab – alle reisten aus der Schweiz an. „Es war der Beginn einer jahrzehntelangen Freundschaft. Ich war oft in Luzern und Zürich, bekam mit, dass in einer dieser Familien der Freitag besonders begangen wird – es wurde Shabbat gefeiert. Das war für mich eine völlig neue Erfahrung“, sagt Heinemann.

1956 schloss er eine Lehre beim Frankfurter Textilgroßhandelsunternehmen Brügelmann & Söhne ab, wechselte zwei Jahre später als Buchhalter in den Schuhgroßhandel. „Die Underwood-Rechenmaschine machte einen Höllenlärm. Wenn am Ende eines Tages auch nur ein Pfennig fehlte, wurde alles noch einmal von vorne geprüft“, sagt der damalige Buchhalter.

Politikseminare motivierten ihn

1969 ging er zur Stadt Frankfurt, arbeitete im Steueramt, im Entwässerungsamt und startete 1972 seine Inspektorenlaufbahn. Lebhaft erinnert er sich an die Seminare für Politik in der Klettenbergstraße in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre. Und an das Funkkolleg. „Die Seminare haben mich motiviert, man ist nach einem Acht-Stunden-Tag mit Freude in die Klettenbergstraße gegangen. Dort habe ich viel gelernt – mit hohen pädagogischen Fähigkeiten wurde dort Wissen aus den Bereichen Psychologie, Soziologie und Rechtswesen vermittelt.“

1968 ist Heinemann DGB-Mitglied geworden, ein Jahr später trat er der SPD bei. An der Studentenrevolte hat er nicht teilgenommen: „Ich hatte keine Zeit, bin durch Deutschland und halb Europa getrampt“, begründet er. Sein Engagement ist umfangreich; Heinemann war in den 70er Jahren Sozialbezirksvorsteher, bis in die 80er Jahre Vorsitzender des AWO-Ortsvereins Ostend. Ab 1987 bis 1993/94 arbeitete er extern für das Sozialamt im Arbeitsamt. „Es hat einerseits Spaß gemacht, Menschen zu helfen, war aber auch belastend“, sagt er.

Kreisvorsitzender der Vereinigung der Verfolgen des Naziregimes 

Im Mai 1993 wurde Rolf Heinemann zum Kreisvorsitzenden der Vereinigung der Verfolgen des Naziregimes (VVN) in Frankfurt gewählt. „Für die überlebenden Juden, Widerständler, Sinti und Roma schlägt mein Herz bis heute“, betont der Engagierte. 2005 lernte er Mascha Prokofieva kennen, die damals für das Günter-Feldmann-Zentrum arbeitete. „So kam ich mit dem Zentrum in Verbindung“, sagt Rudolf Heinemann. Es ist ihm wichtig, dass etwas in Bewegung kommt, dass Menschen geholfen wird.

Ob es sich um Handläufe im August-Stunz-Zentrum, um Fahrstühle an U-Bahn-Stationen, um eine Plakette zur Erinnerung an die Bücherverbrennung auf dem Römerberg handelt – all das geht auch auf Rudolf Heinemann zurück. Er lacht, sagt zum Schluss: „Man muss immer am Ball bleiben, weitermachen, kämpfen – sonst hat man schon verloren.“ Dieses Credo wird ihn auch über den 80. Geburtstag hinaus begleiten, denn still sitzen, zusehen bei Ungerechtigkeiten, abwarten, bis etwas in Gang kommt – all das kann er nicht.