Syrer Wael Shueb startet bei den Olympischen Spielen 2020 in Tokio „Ich trainiere jeden Tag“

Der für Olympia 2020 ins Flüchtlingsteam berufene Karateka Wael Shueb bei einer Unsu-Kata, der „Wolkenhand“. Eine Kata ist ein Formenlauf, eine Art Kampf gegen imaginäre Gegner, bei der bestimmte Abläufe in einer bestimmten Reihenfolge gezeigt werden müssen. Foto: jd

Eppertshausen (jd) – Bei den Olympischen Spielen in Tokio 2020 stellt das Internationale Olympische Komitee (IOC), wie schon 2016, ein Flüchtlingsteam. Als einer der ersten Sportler überhaupt ist der syrische Karateka Wael Shueb vom GKV Lotus Eppertshausen schon jetzt sicher dabei.

Zwei Schwimmer aus Syrien, zwei Judoka aus dem Kongo, ein Leichtathlet aus Äthiopien und fünf Leichtathleten aus dem Südsudan: Das waren die Mitglieder des „Refugee Olympic Teams“ des Internationalen Olympischen Komitee (IOC) bei den Sommerspielen 2016 in Rio de Janeiro.

Das IOC wollte damals mit seiner durchaus kontrovers diskutierten Idee ein Zeichen der Hoffnung für geflüchtete Spitzensportler setzen – und bringt auch in Tokio 2020 wieder ein Flüchtlingsteam an den Start. Einer, der nun dafür nominiert wurde und damit zu den ersten Sportlern überhaupt gehört, der die Olympia-Teilnahme in drei Jahren sicher hat, ist ein Karateka des GKV Lotus Eppertshausen: Der in Urberach wohnende Syrer Wael Shueb, der beim Eppertshäuser Gesundheits- und Kampfsportverein seine sportliche Heimat gefunden hat, hat die Aufnahme ins Team bestätigt bekommen.

Genauer: Bei Ernes Erko Kalac, dem Vorsitzenden des vielfach für seine Integrationsarbeit ausgezeichneten Vereins, flatterte das Nominierungsschreiben ins Haus. Kalac, einst selbst Spitzen-Karateka – Weltcup-Sieger im Kampf, dem „Kumite“, und WM-Dritter im Formenlauf, der „Kata“ – und bestens vernetzt mit dem Deutschen Karate Verband (DKV) sowie dem Weltverband, der World Karate Federation, hatte Shueb auf einem Integrationsfest kennengelernt. Kalac sah sein Talent, führte es den Entscheidern des IOC vor Augen und unterstützte den Sportler beim Auswahlprozess.

Dabei kam Shueb, der aus Damaskus stammt und Ende Oktober 30 Jahre alt wird, auch der Nachweis seiner sportlichen Klasse vor dem Ausbruch des Bürgerkriegs in seiner Heimat zugute. Der Flüchtling gehörte einst dem syrischen Nationalkader an, nahm 2010 an den Weltmeisterschaften in Belgrad teil. Damals wie heute ist die Kata sein Fachgebiet, gleichwohl im Rahmen der Karate-Grundausbildung der Formenlauf zunächst meist gleichberechtigt neben dem Kampf gelehrt wird. „Ohne eine gute Basis durch die Kata wird man auch kein guter Kämpfer“, weiß Kalac. Erst bei Wettkämpfen auf höherer Ebene folge dann die Spezialisierung innerhalb der japanischen Kampfkunst. Die feiert passenderweise in Tokio ihre Olympia-Premiere, mit drei Gewichtsklassen im Kumite und eben dem Wettkampf in der Kata.

Mit der Aufnahme ins olympische Programm ab 2020 werde sich „der Status unseres Sports noch einmal verbessern“, ist sich Kalac sicher, gleichwohl „wir Deutschen auch unter den Top 5 der Welt sind“, wie der aus Montenegro stammende Eppertshäuser Vereinschef meint. Karate sei für ihn sogar „der soziale Sport Nummer eins in Deutschland, ihn betreiben Männer und Frauen, Erwachsene und Kinder, Deutsche und Migranten, Menschen mit und ohne Handicap“. Karate sei „wie Liebe – es kennt kein Alter, keine Sprache, keine Hautfarbe“, lehre zugleich Respekt und Toleranz. „Außerdem schützen wir durch die Regeln unsere Sportler, es gibt kaum Verletzungen.“

Auch Wael Shueb ist trotz der schwierigen Zeit körperlich unbeschadet durch die vergangenen Jahre gekommen. Wegen des Kriegs floh er aus seinem Land, wo im Kampfsport neben dem Karate auch Judo und Kickboxen eine größere Rolle spiele, wie der Syrer nur zwei Jahre nach seiner Ankunft bereits in gutem Deutsch erzählt. Seine Flucht habe ihn wie viele über die Balkan-Route geführt, „in Ungarn haben sie mir meinen Pass weggenommen“. Nach seiner Ankunft in Deutschland kam Shueb in eine Unterkunft nach Neu-Anspach, ehe er vor einem halben Jahr eine Wohnung in Urberach fand. Dank des Lotus-Eppertshausen-Förderers Prinz Michael von Anhalt – alias Fitnessstudio-Betreiber Michael Killer aus Groß-Zimmern – macht Shueb seit September eine Ausbildung zum Fitnesskaufmann in der Eppertshäuser „Fitness Fabrik“. Jede freie Minute nutzt er zum Trainieren.

Als Coach spezifisch in Sachen Karate steht ihm dabei Kalac zur Seite. Der ebenfalls beim GKV Lotus engagierte Kickbox-Europameister Hüseyin Imam arbeitet mit Shueb insbesondere an der körperlichen Verfassung.

Die Motivation sei groß, seit die tolle Nachricht kam, sagt der Syrer. „Ich trainiere jeden Tag“, in Tokio wolle er mit dann fast 33 Jahren in Bestform sein. Kalac traut ihm durchaus zu, im Kampf um die Medaillen mitzumischen. Auf die Frage, ob Shueb die große Überlegenheit der Japaner erwarte, antwortete er: „Die Japaner machen Karate als Beruf. Wir hier machen es als Sport.“ Das könne gerade in der Kata, die eben nicht nur nach Arbeit aussehen soll, von Vorteil sein.

Noch ist der Weg weit. Die Teilnahme hat Wael Shueb aber im Gegensatz zu den Karatekas der nationalen Verbände, die sich sportlich über Turnierleistungen qualifizieren müssen, schon sicher. Shueb sei „sehr fleißig und respektvoll, er akzeptiert auch meine Meinung, obwohl ich manchmal ein schwieriger Mensch bin“, sieht Vorsitzender Kalac ausreichend langen Atem bei seinem Schützling.

Auch die Finanzierung des Olympia-Abenteuers werde gelingen und die große Reise des Flüchtlings nicht platzen lassen, ist er überzeugt.

Man stelle derzeit nicht nur ein Unterstützerteam zusammen, sondern werde auch Sponsoren und öffentliche Stellen ansprechen. Zudem habe der Deutsche Karate Verband Mittel in Aussicht gestellt. Was wichtig sei, wie Ernes Erko Kalac betont: „Wir wollen ja nicht, dass unser Olympia-Teilnehmer nur von Milch und Brot lebt.“