Schülerin Laura Gilles lässt eine Zeitzeugin zu Wort kommen, die Bombenangriffe auf Frankfurt erlebt hat Ein verbogener Kronleuchter

Erinnerung in Schwarz-Weiß: Die drei Jahre alte Helga und die sieben Jahre alte Schwester sind etwa 1942 von ihrer Mutter für den Termin beim Fotografen Lauterwasser auf der Zeil herausgeputzt worden. Foto: p

Sachsenhausen (red) – Es kommt nicht alle Tage vor, dass sich Schüler mit einem Bericht an unsere Redaktion wenden, den sie bei einem Praktikum bei einer freien Journalistin verfasst haben, in dem eine Zeitzeugin zu Wort kommt, die die Bombenangriffe des Zweiten Weltkriegs auf Frankfurt miterlebt hat. Laura Gilles ist 15 Jahre alt und besucht die Schillerschule in Sachsenhausen. Ihre Generation, sagt Gilles, kenne die Weltkriegszeit und den Holocaust aus Geschichtsbüchern. „Ich gehöre aber wahrscheinlich zu der letzten Generation, die diese Geschichten von Zeitzeugen selber erzählt bekommen können, daher nutze ich dankbar diese Möglichkeit“, berichtet die Schülerin und bat uns, ihren Bericht abzudrucken – was wir hiermit gerne tun. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Ereignisse in der Ukraine hat Laura Gilles’ Beitrag zusätzlich an Brisanz gewonnen:

„Als der Alarm losging, mussten wir so, wie wir waren, in den kalten Keller steigen. Vorbei an den Eimern mit Wasser zum Löschen, die Leiter run-ter.“ Die 82 Jahre alte Sachsenhäuserin war kaum ein Jahr alt, als die Bombenangriffe auf Frankfurt im Juni 1940 begannen. Die 1939 Geborene sitzt sportlich auf ihrem Seniorensessel in Sachsenhausen im Wohnzimmer ihres Elternhauses. Sie trägt den damals häufig vergebenen Vornamen Helga; ihren Nachnamen möchte sie nicht in der Zeitung lesen.

Vorsichtig trinkt sie aus der filigranen weißen Tasse einen Schluck heißen schwarzen Tee.

1940, im zweiten Kriegsjahr, fielen 26.000 Tonnen Bomben auf Frankfurt; es war kein sicherer Ort mehr. Bei Alarm versteckte sich die Familie, Vater, Mutter, Helgas vier Jahre ältere Schwester und sie im hoffentlich sicheren Luftschutzkeller unter der Küche. Eine Luke im Linoleumboden mit der Leiter in den niedrigen Keller ist der Eingang. Die alte Frau erzählt: „Wir saßen auf Stühlen entlang der Wand, kuschelten uns in Decken und warteten. Wir warteten so lange, bis das schreckliche Rauschen der Bomben nicht mehr zu hören war. Es zischte und krachte in der Umgebung, man spürte die Detonationen.“ Heute ist ihr Lieblingsplatz im Haus genau das Sonnenfenster über dem ehemaligen Luftschutzkeller in der Küche.

Die fürsorglichen Eltern zogen mit ihren Kinder aus dem Bombenkrieg in die vermeintlich friedliche Rhön. Dort blieben sie eine kurze Zeit bei entfernten Verwandten. Helga, die ältere Schwester, der neu gebo-rene Bruder und ihre Mutter waren dort jedoch nicht willkommen. Sie kamen aus der Stadt, galten als hochnäsig, verwöhnt, anspruchsvoll. Den ganzen Aufenthalt über fühlten sie sich unwohl.

Die Eltern stritten oft und laut mit den Gastgebern. „Ich habe gespürt, wie sehr wir ihnen nicht willkommen waren, und das als kleines Kind“, sagt die Seniorin. Zu der Zeit war sie gerade erst fünf Jahre alt. „Als der Kinderwagen dann auch noch in den Bach geschubst wurde, packte uns unser Vater und brachte uns schnell weg.“ Ein Glück, der Kinderwagen war leer.

Die Ankunft in Frankfurt war schrecklich. Die Stadt zerstört, Straßen kaputt, Ruinen, aber ihr Haus stand noch. Verzweifelt suchte der Vater nach einem weiteren sicheren Ort. Dann: Verwandte in Unterfranken wollten sie aufnehmen. Wieder packten sie ihre Sachen zusammen, die Kleider, das Geschirr und das Besteck. In Allertshausen auf dem Bauernhof erlebte Helga eine schöne Kindheit, die Verwandten nahmen sie herzlich auf. Sie erzählt: „Es war wie eine zweite Heimat für mich.“

Unter der Linde auf dem großen Dorfplatz traf sie sich mit den Kindern aus dem Ort. Gemeinsam spielten sie, der Krieg war fern. Eine bäuerliche, liebliche Gegend, fruchtbar mit vielen Obstbäumen, mit nur einem Plumpsklo in einem Holzverschlag außerhalb des Hauses. Helga erinnert sich besonders gerne an eine unvergessliche Begebenheit aus diesen Tagen: „Zu meinem Geburtstag bekam ich einen Korb. Einen Korb bis oben gefüllt mit leckeren, selbst gebackenen Kreppeln. Und alle für mich.“ Seitdem habe sie nie wieder solche gegessen. „Sie waren frittiert und in der Mitte mit einer dünnen, knusprigen Schicht überzogen. Solche Kreppel schmecken viel besser als die normalen.“ Bei dem Gedanken an diese Leckerei lächelt die alte Frau unwillkürlich und trinkt noch einen Schluck.

Als der Krieg im April 1945 dem Ende zuging, rückten amerikanische Soldaten mit Panzern ins Dorf vor. Helga erzählt wie die Soldaten suchend durch alle Häuser marschierten. „Sie waren voll bewaffnet und hatten einen kalten Ausdruck im Gesicht. Ich hatte furchtbare Angst, weinte und versteckte mich.“

Nach der Kapitulation am 8. Mai 1945 kamen sie dann zurück in das zerbombte Frankfurt. Viele Nachbarhäuser waren zerstört. Ihr Haus aber stand noch; die Fensterscheiben vom Druck in tausend Teilen, die Decken eingestürzt und der prächtige Kronleuchter aus Bronze von der Decke gefallen.

Ein Bombenkrater klaffte in der Wiese nebenan. In der ersten Nacht kuschelte sich die fünfköpfige Familie gemeinsam im Ehebett zusammen. Sie erinnert sich: „Noch heute sehe ich meine Mutter vor dem Bett stehen und die Scherben aus den Decken klauben.“

Helga hält die Porzellantasse in ihren Händen und schaut in Gedanken versunken auf den Tisch im Esszimmer. Sie sagt: „Damals hat man noch nicht über diese schlimmen Ereignisse nachgedacht, man hat sie angenommen und versucht, das Beste daraus zu machen. Oder man hat sie verdrängt.“

Der große Tisch an dem zehn Leute sitzen können, hat in der Mitte zwei schwere Dellen vom herabgestürzten Kronleuchter. Der hängt seit Jahrzehnten mit seinen verbogenen Armen darüber an der Decke und brennt.