Komponist Thomas Gabriel über sein neues Oratorium, die Bedeutung geistlicher Orte, den unkaputtbaren Bach und den Seligenstädter Chor Vox Musica „Engel begleiten mich durch mein Leben“

Tobias Schwab (rechts) interviewt Thomas Gabriel.  Foto: privat

Hainstadt (red) - Zum Interview treffen sich Tobias Schwab von Vox Musica und Thomas Gabriel im Musikzentrum St. Gabriel in Hainstadt - jener Ort, an dem Karmelitinnen mehr als 65 Jahre ein kontemplatives Leben im Gebet führten. Hier wirkt Thomas Gabriel seit 2016 als Kantor für Neue Geistliche Musik. "St. Gabriel beflügelt" lautet das Motto des Hauses - vor allem auch den musikalischen Leiter selbst, der stets mehrere Projekte am Laufen hat.

Thomas Gabriel, heute schon komponiert?
Nein, am Vormittag war ich im Büro, habe Mails beantwortet und Projektstapel geordnet.

Gehen einem Komponisten nicht ständig Melodien durch den Kopf?
Das stimmt. Sogar wenn ich morgens aufwache, habe ich oft den Eindruck, ein Nachtkonzert erlebt zu haben.

Schreibst Du das dann am Morgen gleich auf?
Tatsächlich ist es so, dass mir die besten Kompositionen gelingen, wenn andere noch schlafen. Wenn etwas Größeres ansteht, bin ich dann sehr früh wach, um diese Stimmung, die ich nachts durchlebt habe, zu nutzen. Und dann fließt es eigentlich immer.

Wir sind hier im Musikzentrum St. Gabriel, einem ehemaligen Kloster der Karmelitinnen, in dem Du nun als Musiker arbeitest. Was bedeutet Dir dieser Ort?
Ich liebe spirituelle Orte und war deshalb auch sehr gerne an der Basilika in Seligenstadt tätig. Man merkt auch St. Gabriel an, dass hier viel gebetet wurde. Solche geistlichen Orte haben eine viel größere Bedeutung als oft vermutet wird. Wenn sie aufgegeben werden, geht vielen Menschen eine Mitte verloren. Deshalb ist es so wunderbar, dass die Kapelle auch nach dem Wegzug der Ordensschwestern erhalten werden konnte und St. Gabriel als Zentrum für geistliche Musik eine neue Funktion bekommen hat.

Hier hast Du jetzt die Komposition „Gabriel – im Auftrag des Herrn“ vollendet, ein Werk für den Seligenstädter Chor Vox Musica. Thomas Gabriel, das Musikzentrum St. Gabriel und nun das  Oratorium „Gabriel“. Was kommt da zusammen?
Es ist schon witzig, dass ich jedem Erstkontakt erklären muss, dass der Name des Musikzentrums keinem Größenwahn meinerseits entspringt und das Haus nicht nach mir benannt ist. Aber im Ernst: Das Oratorium "Gabriel" betrifft mich schon mehr, als ich zu Beginn dachte. Engel begleiten mich durch mein Leben. Schon vor etwa 20 Jahren habe ich im Auftrag von Kardinal Lehmann die CD „Mein Engel“ gemacht. Und als ich mich zum Ende meiner Zeit als Kirchenmusiker in Saarbrücken nach einer neuen Stelle umgeschaut habe, kam ich nach Seligenstadt und sah „Gabriel“ auf dem Engelsturm der Basilika stehen und auch auf der Klostermauer. Da hab ich mir gedacht: Das ist doch jetzt ein Zeichen. Die Idee, „Gabriel“ nun ein eigenes Werk zu widmen, ergab sich dann im vergangenen Jahr in einem Gespräch mit Martin Bergmann.

„Gabriel – im Auftrag des Herrn“ ist ein Oratorium. Erklär' uns doch kurz diese musikalische Form.
Oratorien haben grundsätzlich immer geistliche Inhalte. In diesem Begriff steckt das lateinische Verb  orare (beten). Es handelt sich also eigentlich um ein musikalisches Gebet. Im Unterschied zum Musical ist ein Oratorium kein Theaterstück, es gibt also keine szenische Handlung auf der Bühne. Meistens sind Oratorien großformatig angelegt, also für Chor, Solisten und Orchester – und in meinem Fall für Orchester und Band.

Du hast auch den Text für „Gabriel – im Auftrag des Herrn“ verfasst. Welche Erfahrungen hast Du beim Schreiben gemacht?
Ich hab schon vor zehn Jahren begonnen, auch selbst zu schreiben, weil ich oft nicht glücklich war mit Texten, die ich mir gewünscht, aber nicht bekommen habe. Mein erstes Libretto war die „Heimatmesse“. Da hab' ich gemerkt, dass das eigentlich ganz gut geht. Der Text für „Gabriel – im Auftrag des Herrn“ war für mich eine besondere Herausforderung. Die Geschichte versucht zu zeigen, was ein Engel ist. Mir war wichtig zu erklären, dass der christliche Glaube zum Leben nicht noch irgendwie dazukommt, sondern dessen integraler Bestandteil ist.

Kannst Du uns die Handlung von „Gabriel – im Auftrag des Herrn“ skizzieren?
Jeder kennt wahrscheinlich die Verkündigungsszene aus dem Neuen Testament. Der Engel kommt zu Maria und sagt ihr, dass sie auserwählt sei, Gott auszutragen. Ich habe diese Szene weitergesponnen. Maria fragt den Engel: Warum ich? Ich bin jung, nicht besonders gebildet … Und Gabriel antwortet: Du bist nicht Gottes erster Versuch, sondern sein letzter! Der Engel erzählt dann, wie Gott versucht hat, die Menschheit zu retten. Und das geht von Noah, der großen Flut, über die großen Propheten bis dahin, dass er sich ganz klein macht und selbst Mensch wird.

Du spielst auch auf aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen an, wenn es etwa in der Szene „Sodom und Gomorra“ heißt: „Alles was geordnet sie noch gestern, wird gefressen von der Gier ...“  An was hast Du da vor allem gedacht?
An Banken und Börsen, konkret an Frankfurt City. Ich kenne viele clevere Leute, die mit Aktiengeschäften eine Menge Geld machen. Ich frage mich dann immer, wo kommt dieses Geld eigentlich her? Das muss doch irgendjemandem weggenommen werden! Dieses unersättliche Verlangen, wenn man alles hat, noch mehr haben zu wollen, das verstehe ich nicht. Und leider gibt es diese dramatischen, schrecklichen Szenen aus dem Alten Testament auch heute noch. Man muss nur einmal die Augen öffnen. Die Welt ist nicht besser geworden. Die Story ist noch immer die Gleiche.

Wie ist das beim Texten – denkst Du, hörst Du die Melodie dabei immer schon mit?
Das sind eigentlich zwei voneinander unabhängige Schaffensprozesse. Beim Texten achte ich allerdings darauf, dass das Versmaß mir danach keine Probleme bereitet.

Wie geht eigentlich Komponieren? Wartest Du da auf den Moment der Inspiration oder hat das mehr mir Disziplin und Tagesstruktur zu tun?
Ich muss den Kopf frei haben. Die kreative Kraft, kommt dann, wenn ich Ruhe finde. Im Moment habe ich gerade Großveranstaltungen zu organisieren, da kann ich keine Noten schreiben. Aber ich gewinne Energie in Momenten, wo man es nicht vermuten würde. Wenn ich zum Beispiel nach einem langen Tag noch ein Trio-Konzert zu spielen habe, dann kann ich dabei richtig auftanken. Oder wenn eine Chorprobe richtig gut läuft. Ich gebe Energie rein – und komme mit mehr Kraft heraus. Das ist ja eigentlich ein Paradoxon.

Du hast Dich als Kirchenmusiker viel mit Johann Sebastian Bach beschäftigt. Wie viel Bach steckt in Thomas Gabriel?
An der Börse würde man sagen: Er ist der Haupteigner und hat bestimmt mehr als 50 Prozent der Anteile.

Was hast Du von Bach gelernt?
Musik zu schreiben, die unkaputtbar ist. Du kannst Musik von Bach nicht kleinkriegen. Die ist so gut gebaut, dass du sie mit Synthesizer interpretieren, verpoppen oder Jazz darüber spielen kannst. Weil die Struktur so dicht ist. Das geht längst nicht mit allen Komponisten. Beethoven und Chopin haben auch geniale Melodien. Aber in dem Moment, wo du beginnst, sie zu bearbeiten, verlieren die Melodien ihre Gestalt. Bei Bach stimmt es in allen Bereichen, er legt in seinen Werken den ganzen Organismus von Musik frei. Du siehst die Hauptmelodie, aber auch glasklar, was darunter passiert. Das versuche ich zumindest auch in meinen Kompositionen.

Du bist nicht nur der kirchenmusikalischen Tradition verbunden, sondern spielst in Deinen Werken auch mit Elementen des Pop und Jazz. Welche Idee steht dahinter?
Das war eine ganz frühe Erfahrung in meinem Leben: Ich habe viel Orgelkonzerte gegeben, die immer mit großem Respekt honoriert wurden. Als  ich dann mit meinem Trio die gleiche Musik im Jazzstil gespielt habe, kam viel mehr Resonanz – da war Liebe, Begeisterung, Kommunikation. Die Musik kam bei den Leuten an, sie haben plötzlich begonnen, die Musik zu verstehen. Obwohl ich in meinen Augen eigentlich das Gleiche gespielt habe. Die Sprache der Popmusik ist eben die Sprache unserer Zeit. Und wenn es mit ihr gelingt, die Inhalte der Musik von Bach oder meiner Musik an die Menschen zu bringen, dann ist das doch gut.

Im Dezember wirst Du bei „Gabriel – im Auftrag des Herrn“ selbst in die Tasten greifen. Wie ist das für Dich, Teil der Uraufführung eines eigenen Werkes zu sein?
Sehr spannend jedenfalls. Ich würde das nicht bei jedem Chor machen. Bei Vox Musica weiß ich aber, auf welch hohem Niveau sich das abspielt. Und wenn ich selbst am Klavier sitze, kann ich vieles, was nicht in der Partitur steht, noch einmal herausarbeiten. Den Klavierpart gibt es zwar in den Noten, aber ich werde da bestimmt ganz andere Dinge spielen.

Das Oratorium wird von Orchester und Band begleitet. Auf was kam es Dir bei der Instrumentierung an?
Auf die Farbigkeit. Die Orchestrierung ist für mich wie eine Farbpalette. Klar, man könnte auch nur die klassischen Farben Bläser und Streicher nehmen. Oder aber wie Gustav Mahler einfach mal alles ins Orchester setzen, was es so an Instrumenten gibt. Aber das Budget ist ja nicht unbegrenzt. Also kommt es darauf an, kreativ zu sein und reizvolle Klangbilder zu erzeugen. Mit Harfe, Akkordeon oder Englischhorn, die bei „Gabriel – im Auftrag des Herrn“ zum Einsatz kommen, lassen sich tolle, effektvolle Farbmischungen herstellen.

„Gabriel – im Auftrag des Herrn“ ist nicht Deine erste Co-Produktion mit Vox Musica. Wir erinnern uns an das gefeierte Seligenstadt-Musical „Eginhard und Imma“. Was verbindet Dich mit diesem Chor?
Ganz grundsätzlich schätze ich Seligenstadt sehr, diese großartige Stadt mit einem bunten bürgerlichen Engagement in vielen Bereichen. Das kulturelle und musikalische Leben mit Chören und Orchestern ist einzigartig. Dieses kulturelle Netzwerk ist für mich als Kirchenmusiker und Komponist von großer Bedeutung. Und in diesem Geflecht ist Vox Musica ein ganz besonderer Knotenpunkt. Ich kenne den Chorleiter Christoph Dombrowski schon lange. Er ist ein großartiger Musiker, der meine Kompositionen einfach gut versteht. Und dann singen bei Vox Musica natürlich viele Freundinnen und Freunde von mir.

Interview: Tobias Schwab