Neunjähriger begeistert bei seiner Premiere / Lokale Themen ziehen sich durch die Galasitzungen des Heimatbundes „Großer Gott, wir loben dich“ als Rap unn in de Kersch wär de Deibel los

Brachte so einige heikle, aber auch lustige und nachdenkliche Themen zu Sprache: Turmmännchen Jürgen Zöller bei seinem Protokoll in den Heimatbund-Galasitzungen. Fotos (7): Monika Bauch

Von Bernhard Koch

 

Schlumberland – Neun Jahre und sieben Tage jung ist der neue Sellestädter Fastnachts-Star, als er die Bühne des Riesensaals betritt und schon bei seiner Heimatbund-Premiere dafür sorgt, dass die Mainzer Fernsehfastnacht Konkurrenz bekommt. Als Obermessdiener jedenfalls steht Jakob Wallisch vom „Schwesternhaus“ dem Mainzer Vollblutfastnachter Andreas Schmitt in nichts nach. Dreimal voll besetzt ist die Narrhalla bei den Galasitzungen des Heimatbundes am Wochenende mit jeweils 20 Programmpunkten und vielen heiklen Lokalthemen.

„Wir sind zusammen bunt“ ertönt es bereits beim Prolog musikalisch mit Nadja Rausch, Ali Peitz, Dominik Stadler und Bernd Büddefeld, nachdem Till André Rückert seine Gedanken rund um den „Brummdopsch-Kreisel“ zum Besten gab. Sitzungspräsident Bernd Büddefeld begrüßt das närrische Volk erstmals als frisch gebackener „Baba“, bringt den Elferrat als Babysitter gleich mit. Die Spannung steigt: Heimatbund-Chef Richard Biegel stellt mit Prinz Michael (Follert) und Prinzessin Tatjana (Biegel) das neue Prinzenpaar vor (mehr auf dieser Seite) und die ersten Orden wechseln ihre Besitzer vor der musikalischen Prinzenhuldigung durch den TGMix unter Leitung von Christoph Dombrowski.

Immer wieder Szenenapplaus und Aufmerksamkeit sind angesagt, als Turmmännchen Jürgen Zöller die ersten „Rundumschläge“ verteilt, vor allem, wie es in der Fastnachtszeit üblich ist, an die Politik, so manche Institution und natürlich an die geliebten Nachbar-Stadtteile, die lieben Welzekleinheimer und die Froschhäuser. Aber vor allem Seligenstädter Themen beschäftigen das Turmmännchen negativ wie positiv auch in diesem Jahr: Der Kapellenplatz, die Sellestädter Hauptschlagader, - vielleicht sogar die neue Visitenkarte der Stadt - die nostalgische Nutzung der Einhardstraße in beide Richtungen oder die nachbarschaftlichen Aktionen beim eigenmächtigen Umstellen von Halteverbotsschildern an der Kaiser-Karl-Straße. Klar, dass auch die Selbstzerfleischung der SPD mit kapitulierendem Vorstand im Blickfeld steht („wenn’s um ge(r)heime Positionen geht, schwänzelt sogar der Wolf gegen den Parteienstrom“), die Fahrrad-Ständer, der Westring, Papierkörbe, die fast eine Tagesreise voneinander entfernt stehen, natürlich die Hans-Memling-Schule, nicht mehr notwendige Parteien wie die AfD, die Aktion „Seebrücke“ auf dem Marktplatz oder das alle vier Jahre stattfindende Geleitsfest mit dem inzwischen fünften Kaufmannszug, 2003 neu initiiert von den Familien Sprey und Rühl. Dazu kein Helau, sondern ein „Jubel“ vom närrischen Publikum, das auch erinnert wird an den verstorbenen Bruno Winkler („Er hat für Sein Seligenstadt immer alles gegeben, getreu seinem Motto ‚Auf das Leben’“).

Die erste Rakete des Abends war fällig und minutenlanger Applaus für ein gekonntes Protokoll.

Zwischendurch ein Pippi-Langstrumpf-Showtanz der vorzüglich geschminkten Heimatbund-Minis, der „Schlumberzwerge“ (Leitung: Katja Rauh und Britta Kratz) und jedem war an dieser Stelle klar. Die Zukunft der Schlumber-Fastnacht ist gerettet, zumindest wollen viele der 24 Kleinen irgendwann Mal Prinzessin werden. Noch vor der Moritat mit Jürgen Zöller an der Teufelsgeige, Wolfgang Wettig am Leierkasten und Gerhard Sattler an der Quetschkommode, die traditionell über jene Interna berichten, die nicht im Heimatblättche standen, und dem Showtanz der „Spotlights“ rund um die 80er und 90er Jahre unter Leitung von Veronika Sommer und Anna Stiebitz, ein neues Gesicht auf der Narrenbühne.

Spätestens nach den ersten Sätzen ist klar: Die Mainzer Fernsehfastnacht muss sich jetzt warm anziehen. Konkurrenz aus der Einhardstadt ist angesagt. Als Obermessdiener (OMD) begeistert der neunjährige Jakob Wallisch die Narren mit einem komplett frei vorgetragenen und mehrmals von Szenenapplaus unterbrochenen Halleluja-Text von seinen tollen Vorschlägen für Basilika-Pfarrer Stefan Selzer (beispielsweise der Einführung einer Beicht-App fürs Smartphone mit sieben Sünden gratis, Helauluja statt Kniebeugen oder „Großer Gott, wir loben dich“ als Rap). Es sind schon einige tolle Ideen für die kirchliche Zukunft in Jakobs „Mehr-in-die-Kersch-geh-Vermarktungs-Strategie“. So jedenfalls „wär’ in de Kersch de Deibel los“. Und auch, wenn der OMD von de Basilika kürzlich im Eifer die Hostien mit Edding durchnummeriert hat, de Parrer ist ihm sicher nicht böse. Denn die Gemeinde besteht nicht nur aus em Parrer, sondern auch aus de Leut, die zur Frühmess sicher nicht kommen, die er aber in sein Gebet mit einschließt. Klar, dass zum Auszug die Hofkapelle des TGS-Musikcorps „Die Hände zum Himmel“ spielt. Unklar allerdings, ob der neunjährige Jakob Wallisch nach seinem, mit einer Rakete belohnten, Vortrag tatsächlich für die zwölf Apostel vom Heimatbund hinter ihm eine Kollekte eingesammelt hat.

Vor der Pause noch eine Rakete und die gibt’s für Roland Wolf von der Germania 03 (mit Klavierbegleitung von Sven Garrecht beim „Jesses naa“ zum Abschluss), der den City-Hopper zum Anlass nimmt, die Fassenacht wieder mit Kokolores und jeder Menge Hintergrund zu beleuchten. Klein-Welzheim und modern - zwei Welten treffen im Diaspora-Stadtteil aufeinander. Autofahren mit dem Hopper ist was Besonderes, Fahrradfahren ist dagegen eher veganes Reiten. Radständer, die jeden Tag an einer anderen Stelle stehen, weil das im Rathaus morgens vielleicht gelost wird. Der Riesensaal an der „Unten-herum-Gasse“, die Strohballen der Insektenhelfer, die vielleicht demnächst in einem Sexfilmchen aus Seligenstadt zu sehen sind.

Und auch ein Erinnern baut Roland Wolf vor dem musikalischen Abschluss ein: Von drei besonderen Menschen musste sich Seligenstadt trennen. Peter Kappen, Bruno Winkler und Karl Stenger. „Wahrscheinlich sitzen sie beim lieben Gott und versuchen ihn zu überzeugen, aus der Kelch- eine Löffel-Kommunion zu machen.“ Mehr Details von Roland Wolf gibt’s sicher demnächst bei den Fastnachtsführungen der Tourist-Info.

Stimmungspotpourri, Dank an die vielen Mitwirkenden hinter den Kulissen, Stimmungsmusik der „Fikus-Coverband“ mit Carlos Unger, Robin Millitzer, Philipp Imgram, Jannis Monheimer, Kai Friedrich und die Narren im Saal sind bereit zum zweiten Teil, gleich mit einer besonderen Ehrung. Richard Biegel verleiht die „Goldene Flamme“ an Ralf Disser, den Chef hinter den Kulissen seit vielen Jahren.

Einer, der mehr Instrumente beherrscht als Sitzungspräsident „Büdde“ überhaupt kennt, brilliert dann mit seiner „Stadt, in der ich lebe“ mit Mitsingteilen und jeder Menge gelungener Reime, der lange Jahre nicht mehr auf der Bühne stand und absolut verdeutlicht, wie lieb ihm Sellestadt ist: Sven Garrecht, inzwischen als Komponist weit über die Grenzen der Einhardstadt hinaus bekannt. Von der Zeit, in der man sich nen Ast lacht, der Fastnacht, singt Garrecht ebenso wie von den Glocken der Basilika. Was Gina-Lisa aber damit zu tun hat, das wissen zumindest diejenigen, die in einer der drei Gala-Sitzungen vertreten waren. Der Rosenmontagszug ist immer ein Erlebnis und niemals bunt genug. Wieder einer dieser zahlreichen Hinweise auf das Thema, das sich an diesem Abend wie ein roter Faden durchzieht. Für alle bringt’s der Sven aus der Abt-Peter-Straße zudem auf den Punkt: „Weil du mir gibst, was keiner hat. Ich hab dich lieb, mein Sellestadt.“

Jetzt geeilt: Notruf 112, die „Fireflies“ kommen mit dem Showtanz „Feuerwehr“, das gebürtige Seligenstädter und in Mainflingen lebende Urgestein Robert Steil - seit 40 Jahren auf der Bühne - beschreibt die Narrenfreiheit der Büttenredner früher, vergleichbar offensichtlich mit einigen sozialen Medien heute und räumt die fünfte Rakete des Abends ab.

Dann noch etwas „Fitness for Fastnacht“ mit dem wieder gelungenen Showtanz des Wagenbauer-Balletts, trainiert von Susanne Millitzer, und vor dem begeisternden Gardetanz der SFF-Garde (Leitung: Christien Büddefeld und Lisa Wellner) und dem Finale der Showvortrag „Aus unsrer Mitte“ von Dominik Stadler mit Bernd Büddefeld als Greta aus Schweden („das Schönste am Leben (in der Schule) ist der Freitag“) mit Gags in der sechsten Stunde. Ein gekonnter Abschluss der Heimatbund-Galasitzung und einem stellvertretenden Programmchef, der vor 20 Jahren das erste Mal auf der Bühne stand und zu früher Stunde nochmal bisschen „Salz in die Narrensuppe“ streut: mit dem Schulkinderumweltverein (SUV), als Prinzessin, als Feuerwehrmann und im Blick auf die Hans-Memling-Schule („Tu alle Politiker schenke, es richtische Hern zum denke“).

Fotos von der Heimatbund-Sitzung in unserer Bildergalerie 2.

Weitere Fotos im Artikel "20 Programmpunkte..."

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