Karl-Heinz Stier berichtet über seine Kindheitserinnerungen mit der Mühlheimer Fähre „Für Zecher damals oft die letzte Chance auf nächtliche Heimkehr“

Karl-Heinz Stier sah als Kind, wie US-Soldaten die Fähre versenkten. Schweren Herzens habe er nun dem Ende der Verbindung zugestimmt. Foto: man

Mühlheim (man) – Die Parlamente von Stadt und Kreis haben der Fähre zwischen Mühlheim und Dörnigheim mittlerweile offiziell die Messe gelesen: Nichts fährt mehr. Im Rückblick weiß man es immer ganz genau, aber de facto fiel schon im Oktober 2017 der Hammer. Der Versuch, den Betrieb mit neuem Pächter wieder aufzunehmen, mündete am 8. Juli 2019 nach vier Stunden in einem Bergungseinsatz der Feuerwehr. Im Widerpart zwischen Herz und Kopf stimmte der Mühlheimer Kreistagsabgeordnete Karl-Heinz Stier der Stilllegung zu.

Längs verbinden Flüsse, quer trennen sie. Ohne die Fähre wäre Karl-Heinz Stier sicher nicht zur Welt gekommen. Der Vater des SPD-Stadtrats wuchs drüben im protestantischen Dörnigheim auf. Die katholische Mutter Gertrude kam als Fünfjährige bei Adoptiveltern in Dietesheim unter. Zwei Jahre hatte das 1915 geborene Mädchen im Waisenhaus in Offenbach verbracht. Ihre Eltern starben 1918 an der „spanischen Grippe“, gegen die Corona wie ein globaler Schnupfen wirkt.

Der ebenfalls 1915 geborene Vater Karl absolvierte in Dörnigheim eine Weißbinderlehre, außerdem betrieb er eine Nebenerwerbslandwirtschaft. Nicht selten stieg er auf die Fähre, um sich auf der Südseite des Mains umzusehen. Damals bahnte sich so manche Ehe sonntags beim Tanztee an.

Die früheste Erinnerung von Karl-Heinz Stier an die Fähre hängt mit einem Trauma zusammen. Wohl die meisten, die an Ängsten leiden, ahnen nicht, woher ihr panisches Empfinden rührt. Der 79-Jährige erzählt, wie sich niemand erklären konnte, warum er als Bub immer weinte und schrie, wenn es auf die Fähre ging. Heute weiß er den Grund. Als Vierjähriger hatte Karl-Heinz gegen Ende des Krieges beobachtet, wie die Amerikaner die Fähre versenkten, „ich sah, wie das Teil so langsam absoff“.

Die Amis wollten wohl eine Wiederholung dessen vermeiden, was ein paar Tage zuvor passiert war, als die Fähre den Tod brachte. SS-Männer hatten Wind davon bekommen, dass Bürger planten, den US-Truppen Mühlheim kampflos zu übergeben. „Die setzten über und erschossen vor dem alten Rathaus drei Menschen“, erzählt Stier.

Damals ruhte der Fährverkehr noch nicht mal ein Jahr, bis es wieder losging, was für Stiers Eltern einem Segen gleichkam. Vater Karl eröffnete nach seiner Kriegsgefangenschaft in Bad Kreuznach im Dörnigheimer Elternhaus eine Kleiderfärberei. Es war billiger, der alten Wehrmachtsuniform eine andere Farbe verpassen zu lassen als sich einen neuen Anzug doch nicht leisten zu können. Schließlich mutierte die Färberei zur Wäscherei. Täglich nutzten die Stiers, die in Dietesheim lebten, mit Kind und Fahrrad im Schlepptau die Fähre. Karl-Heinz Stier, der Vorsitzende des Geschichtsvereins, erinnert an die Jahre, als der Regelbetrieb bis 22 Uhr ging, „um 23 und 24 Uhr setzte die Fähre jeweils noch einmal über“. Kurz vor Mitternacht kam es regelmäßig zu hektischen Aufbrüchen, wenn Mühlheimer Zecher von den Terrassen der Dörnigheimer Lokalitäten „Zur Mainlust“ und „Zum Schiffchen“ ihre letzte Chance auf nächtliche Heimkehr anschippern sahen. Wer die verpasste, hatte vielleicht das Glück, privat unter zu kommen, wenn nicht, „musste er zusehen, wie er die Zeit bis sechs Uhr herumbekommt“. Manches Mal konnte die Fähre auch früher nicht fahren, bei Hochwasser oder Eistreiben. Stier, der langjährige Fernsehmoderator beim hessischen Rundfunk und Vorsitzende des Mühlheimer Geschichtsvereins, erinnert sich an 1963, als zwar an keinerlei Schiffsverkehr zu denken war, sich der Fluss in der Quere zu Fuß so leicht überwinden ließ, wie seitdem nie wieder, „die Eisschicht war 20 Zentimeter dick“.

Der Stadtrat vermutet, „wohl keinen Kommunalpolitiker verbindet so viel mit der Fähre wie mich“. Schweren Herzens habe er dem Ende zugestimmt. Die letzten Jahre hätten jedoch hinlänglich gezeigt, „es fehlt an Personal“. Unter dem Blickwinkel von durch Corona angespannter Kassen mache es keinen Sinn, aus nostalgischen Gründen viel Geld auszugeben, „die Erinnerung an die Fähre wird nach und nach verblassen“.