Rund 50 Teilnehmer beim Novembergang zum Wachthäuschen Verfolgung der Mühlheimer Juden

Treffpunkt für die Teilnehmer des Gedenkrundgangs war vor dem Buchladen. Es wurden die Namen von 36 Mühlheimer Juden verlesen, die in den Vernichtungslagern ums Leben kamen. Foto: Mangold

Mühlheim (man) – Im 20. Jahrhundert galten die Hexen nicht mehr als verantwortlich für nasskalte Sommer, Krankheit und Missernten. Im Land der Dichter und Denker wurden während des „1.000-jährigen Reichs“ vor allen die Juden für an alles Ungemach verantwortlich gemacht. Auch in Mühlheim. Deshalb mussten etwa die zehn- und 14-jährigen Geschwister Arno und Sonja Chmielnicki im Vernichtungslager sterben.

Zum Jahrestag der Pogromnacht am 9. November 1938 führen Bernd Klotz, Jörg Neumeister-Jung und Wolfgang Stock gut 50 Besucher vom Buchladen an der Bahnhofstraße bis zum Wachthäuschen gegenüber von St. Markus, vorbei an jüdischen Häusern und Plätzen von NS-Verbrechen. Zu Beginn lesen Klotz und Neumeister-Jung die Liste der 36 Mühlheimer Juden vor, die im KZ den Tod fanden.

Dort, wo früher an der Friedrichstraße die Synagoge stand und heute eine Gedenktafel hängt, erzählt Neumeister-Jung von den Ereignissen, die unter „Reichskristallnacht“ in die Nachkriegsgeschichte eingingen. Bürgermeister und NSDAP-Ortsgruppenleiter Anton Winter, wohl keiner der finstersten seiner Zunft, hatte städtische Bedienstete angewiesen, am spontanen Volkszorn nicht teilzunehmen. Es fanden sich aber vier stramme Nazis, die mit der Axt die Türe aufschlugen und mit Benzin getränkte brennende Kleidungsstücke auslegten. Der Stadtbedienstete Otto Wolf reagierte schnell. Ihm gelang es, das Feuer zu löschen.

Isaak Liebmann und Arnold Kürten

Später soll ein gewisser Franz R. geprahlt haben, „ich habe mich jetzt kräftig an den Juden gerächt“. So wie an Isaak Liebmann, dem Sohn des Gemeindevorstehers, der beim Versuch, die Thorarollen in Sicherheit zu bringen, ebenso Tritte und Schläge abbekam wie Arnold Kürten, sein christlicher Freund, der ihm half. Die Zöglinge des Kreiserziehungsheims wurden bei der Gelegenheit von der Leine gelassen. Sie konnten, ohne Gefahr zu laufen, Prügel zu beziehen, nach Herzenslust im Gotteshaus wüten.

Das Irrationale flankieren nicht selten banale Motive. Der Mob plünderte in der gleichen Nacht das Kleidergeschäft von Samuel Stern an der Marktstraße. Beim rasenden Volkszorn ein teures Jackett kostenlos einzusacken, da hüpfte manches Schnäppchenjägerherz. Am nächsten Tag ging Stern zum Bürgermeister Winter, vermutlich mit einem Gefühlsgemisch aus Wut und Mut. Ein tüchtiges Maß an Naivität dürfte dem Kaufmann auch noch eigen gewesen sein. Jedenfalls klappte er vor Winter sein Schuldenbuch auf. Da standen sie notiert, die Parteigenossen, denen Stern Textilien in Treu und Glauben überlassen hatte, sie werden die Rechnung bei Gelegenheit bezahlen. Die fand sich aber nicht mehr. Kurz darauf musste Stern sein Geschäft verkaufen.

Samuel Stern und seine Familie

Der Mann schaffte es mit seiner Familie nicht, Deutschland zu verlassen. Möglicherweise hatte sich der Soldat des Ersten Weltkriegs Illusionen hingegeben. Vielleicht fehlte das Geld. Letztlich starb Stern in Auschwitz, wie seine Frau Thekla. Sohn Helmut kam mit 21 Jahren in Majdanek um.

Polizeigeneral Reinhard Heydrich befahl in der sogenannten „Reichskristallnacht“, freie Gefängniszellen mit Juden zu füllen. Das Wachthäuschen gegenüber von St. Markus war schnell voll. Darin befand sich auch der Metzger Hermann Stern als einer von acht Mühlheimern. Der Cousin von Samuel hatte sein Geschäft ein paar Meter weiter Richtung Main. Anders als Samuel, landete Hermann mit den anderen in Buchenwald. Die Verhaftung durch die SS ging nicht ohne Misshandlungen ab. Nach ein paar Wochen bekam Hermann Stern das Angebot, das KZ zu verlassen, wenn er so schnell wie möglich unter Verzicht auf seine Güter emigriere. Mit seiner fünfköpfigen Familie siedelte Stern bald nach England über.

Am Wachthäuschen endet der Rundgang mit der von FEG-Schülern initiierten Gedenkfeier: „Beim Betreten von ‘Jedem das Seine’ lag die Würde des Menschen in weiter Ferne.“