FESTIVAL DER INKLUSION Aktionen, Infostände und Erfahrungsaustausch Barrierefreiheit beginnt im Kopf

Die Aufführung der Rollstuhltanzabteilung des RSC Frankfurt war einer von vielen Programmpunkten.

Neu-Isenburg – Zur Arbeit oder zum Einkaufen gehen und dabei einfach drumherum laufen, wenn ein Auto halb auf dem Bürgersteig parkt, ein Ast in Kopfhöhe über den Zaun ragt oder ein Baugerüst im Weg steht – all das machen wir jeden Tag mit links. Doch wie läuft der Alltag, wenn man blind ist? Andrea Finas hat sich eine Augenbinde aufsetzen lassen und macht den Selbstversuch, um nachzuempfinden, welche Hürden blinde Menschen täglich bewältigen müssen.

Mit einem Blindenlangstock versucht sie, den Rosenauplatz zu erkunden. Sicherheitshalber wird sie dabei von Kerstin Heldmann, einer Fachkraft für Blinden- und Sehbehinderten-Rehabilitation, geführt. Plötzlich stößt die „Erblindete“ an ein Hindernis und versucht zu ertasten, was es ist – und vor allem, wie sie es „überwinden“ könnte. Es ist für Sehende jedoch nur eine ganz normale Baustellenabsperrung samt Hinweisschild „Umleitung“ – dies kann die Probandin freilich nicht sehen. „Oh, was mach ich jetzt?“, fragt Finas. Heldmann empfiehlt, falls möglich eine normal sehende Person um Hilfe zu bitten. Der beschwerliche Weg geht weiter – und plötzlich findet der Blindenstock kein „Ende“ mehr. Andrea Finas steht nämlich am Abgang zur Tiefgarage und die Treppe ist für sie ein Abgrund ins Ungewisse. „Wir machen dem Spiel ein Ende“, sagt die begleitende Fachkraft und nimmt die Augenbinde ab. „Das ist wirklich brutal“, stellt die Probandin fest.

Nicht besser ergeht es Gordana Petkovic vom Team der Hugenottenhalle. Sie hat sich in einen Rollstuhl gesetzt und versucht, einen Parcours zu bewältigen, dessen „Hindernisse“ denen einer ganz normalen Strecke in einer Stadt entsprechen. Schon die Auffahrt auf eine nur vier Zentimeter höhere Ebene ist für Petkovic ein Problem. Hier weiß Pamela Heymann Rat. „Einfach etwas zurücklehnen und mit einem kleinen Ruck anfahren, dann gehen die Vorderräder etwas in die Höhe“, erklärt das Mitglied des Rollstuhl-Sport-Clubs Frankfurt (RSC).
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Doch der Ruck von Petkovic geht buchstäblich nach hinten los. Wäre der Kippschutz nicht ausgefahren gewesen, sie wäre wohl rücklings aus dem Rollstuhl gekippt. Nach drei Versuchen klappt es dann.

Die junge Chelia Thomson hat recht schnell den Dreh raus und nach zwei noch etwas wackeligen Durchgängen zeigt sie ihrer Mutter Kerstin stolz ihre Fahrkünste im Rollstuhl. Bürgermeister Gene Hagelstein – derzeit bekanntlich selbst im Rollstuhl sitzend – schaut voller Respekt zu. „Ich kann jetzt ja auch ein wenig mitreden und ich bin froh, wenn ich das Ding wieder los bin“, sagt Hagelstein. Nach einem Sturz ist das Stadtoberhaupt momentan noch auf den Rollstuhl angewiesen.

In seinem Grußwort zur Eröffnung des ersten Festivals der Inklusion lobte der Rathauschef am Samstagmittag die Initiative von Pierre Fontaine: Neu-Isenburgs Dezernent für Inklusion und Barrierefreiheit hatte die Idee für die Veranstaltung. Das Ziel: „Menschen mit und ohne Behinderung stehen zusammen auf der Bühne, stellen aus, informieren und feiern gemeinsam. Wir wollen die Stadtgesellschaft für das Thema Inklusion sensibilisieren und einladen, die Perspektive zu wechseln. Denn Barrierefreiheit beginnt im Kopf“, so hatte der Dezernent es im Vorfeld formuliert. Und wer am Samstag auf dem Rosenauplatz ist, hat den Eindruck: Ziel erreicht. Es gibt Mitmachaktionen, Infostände, Erfahrungsaustausch, Musik und Redebeiträge – begleitet von einer Gebärdendolmetschenden. „Inklusion stellt unterschiedliche Anforderungen, um allen Menschen mit Behinderung eine uneingeschränkte Teilhabe an unserer Gesellschaft zu ermöglichen“, sagt der Bürgermeister. Inklusion bedeute auch, an alle zu denken.

Stadtverordnetenvorsteherin Christine Wagner verweist darauf, dass in Neu-Isenburg mehr als 6.600 Menschen mit Behinderung leben. Inklusion sei, „wenn alle mitmachen dürfen, egal wie sie aussehen, egal was sie können, ob in der Schule, am Arbeitsplatz oder im öffentlichen Leben“. Heinz Wagner, Präsident des HBRS (Hessischer Behinderten- und Rehabilitations-Sportverbandverband), verweist darauf, dass zwar schon einiges passiert sei, es aber zahlreiche Beispiele in den Nachbarländern gebe, wie man unbürokratisch Verbesserungen erreichen könne. Pierre Fontaine fordert alle auf, Hinweise, Anregungen, aber auch kritische Punkte per E-Mail (inklusion[at]stadt-neu-isenburg[dot]de) zu melden.   lfp