Videoschalte von der Stadtbücherei nach Israel Bomben, Krieg und Rotwein

Das erste Mal seit langer Zeit veranstaltete die Stadtbibliothek in ihren Räumen wieder eine Lesung. Mit dabei war lokale Prominenz. Dazu zählten unter anderem Landrat Oliver Quilling und der zukünftige Bürgermeister Gene Hagelstein. Foto: mangold

Neu-Isenburg – Für Deutschland kann Israel kein Staat wie jeder andere sein. Umgekehrt auch nicht. Unter den Ahnen der einen stecken die Mörder der Verwandten der anderen. Das lässt sich nicht wegnormalisieren, was bei der Videoschaltung zu 25 Jahren Partnerschaft in der Stadtbibliothek Neu-Isenburg zwischen dem Kreis Offenbach und der israelischen Stadt Kiryat Ono auch niemand versucht.

Bestens gedolmetscht berichtet etwa eine über 60-jährige Frau von ihren Ängsten, nach Deutschland zu fahren. Irgendwann traute sie sich in einer organisierten Reisegruppe doch. In Berlin gab es einen freien Tag. Die Israelin erinnert sich, wie sie erst zögerlich alleine durch die Stadt ging, „nach jedem Schritt fühlte ich mich aber sicherer“. Alles Unbehagen sei verflogen „als mich Leute nach dem Weg fragten“.

Im Zentrum des Abends in Neu-Isenburg stehen zwei Lesungen aus der 2015 beim Fischerverlag erschienenen Anthologie mit dem Titel „Wir vergessen nicht, wir gehen tanzen“. Landrat Oliver Quilling und Kiryat Onos Bürgermeister Israel Gal stellen jeweils ihre Lieblingsgeschichte aus dem Buch vor, dass der Berliner Autor Norbert Kron und der in Herzlia lebende Schriftsteller Amichai Shalev herausgaben. Die beiden fragten damals bei Kollegen nach Beiträgen. Der israelische Literaturkritiker deutet an, dass manche abblitzten, weil sie nicht gerade ihr bestes Werk anboten, „andere lassen sich mit der Antwort bis heute Zeit“.

Oliver Quilling freut sich über die erste Veranstaltung seit Langem in der Stadtbibliothek. Der Landrat erwähnt, meist spiele Israel medial nur eine Rolle, wenn es zu Gewalt komme, „wenn ein Anschlag passiert oder das Land in einen militärischen Konflikt gezogen wird“. Der 56-Jährige liest aus der Geschichte mit dem Titel „Stein im Schuh“ der österreichischen Schriftstellerin Eva Menasse, die von ihrem ersten Besuch in Israel berichtet. „Ich finde mich selbst darin wieder“, erklärt Quilling den Grund seiner Wahl.

Die Ich-Erzählerin skizziert die Minuten vor der Landung, „auf einmal tauchte hinter ein paar flaumigen Wolken Tel Aviv auf“. Die Rede ist von dem mythischen Land aus der Kinderbibel, von Davids Steinschleuder und Jonas Aufenthalt im Bauch des Wals, „ich dachte hysterisch hunderte Male hintereinander den völlig banalen Satz: ,Israel gibt es wirklich.‘“ Ein Land, das seit seiner Gründung im Kriegszustand lebt. Der Text behandelt etwa den Besuch der über 90-jährigen Mutter einer Freundin, die in einem Altersheim in Batyam lebt. „Die alte Dame öffnet die Türe mit den Worten: ,Heute haben sie neue Gasmasken verteilt.‘“ Das geschieht im Sommer 2010, als es im Verhältnis mit dem Iran kriselt. „So schlimm wie in Berlin ’45 wird das hier sowieso nicht“, schätzt die Frau die Lage ein, die von ihrer Häftlingsarbeit in einer Rüstungsfabrik im Dauerbombardement der letzten Kriegsmonate erzählt, „der Golfkrieg war nichts dagegen“.

Bürgermeister Israel Gal entschied sich für die Geschichte „Als vor mir der Bus von Maccabi Haifa fuhr“ des in Berlin lebenden Autoren Moritz Rinke. Gal liest die Passage über einen in Ramallah lebenden palästinensischen Wirtschaftsjournalisten, der davon spricht, er habe seine Eltern in Gaza nie besuchen dürfen, „nicht einmal zu ihrer Beerdigung“. Eine andere Stelle in Rinkes Text erzählt, wie türkische Schriftsteller die Einladung der israelischen Autorennationalmannschaft zu einem Turnier in Haifa ablehnen. Das Argument, man könne doch über die Besetzung palästinensischer Gebiete vor Ort mit den Israelis diskutieren, zündet nicht.

Über seinen ersten Besuch mit seinem Mann in Israel spricht der designierte Isenburger Bürgermeister Dirk Gene Hagelstein. Er habe als Kind eine alttestamentarische Prägung erfahren, „und dann sitzt du in Tel Aviv, trinkst den besten Rotwein und alles um dich ist so lebendig“.

VON STEFAN MANGOLD