Gerhard Gräber liest im Stadtarchiv aus Schriften des Auschwitz-Häftlings Paul Trawa Chronik des Überlebens

Gerhard Gräber liest aus der Chronik über Paul Trawa, der Auschwitz und Dachau überlebte. Vorne sitzen dessen Schwiegersohn Luigi Lavorato, Enkelin Chiara und Tochter Rachelle Lavorato. Foto: Mangold

Neu-Isenburg (man) – Der langjährige FDP-Stadtverordnete Gerhard Gräber las in den Räumen des Stadtarchivs auf Einladung der Leiterin Claudia Lack aus der Familienchronik des einstigen Auschwitz-Häftlings Paul Trawa vor. Monika Humpert, eine Freundin der Trawas, schrieb das Dokument zu dessen 90. Geburtstag. Aus gesundheitlichen Gründen konnte der heute 92-Jährige nicht erscheinen. Unter den Zuhörern saßen seine Tochter Rachelle Lavorato, Enkelin Chiara und Schwiegersohn Luigi Lavorato, nicht nur Isenburgern als Wirt des Restaurants „Neuer Haferkasten“ an der Frankfurter Straße bekannt.

Gräber liest ein Dekret des Generalgouvernements Radom vom 12. Dezember 1939, das Juden untersagt, „öffentliche Wege zu benutzen“. Die Bewohner durften das Schtetl, so hieß ein Stadtteil mit hohem jüdischen Bevölkerungsanteil, nicht mehr verlassen. Rachelle Lavorato erzählt von einer wiederkehrenden Diskussion, die es zwischen ihren Eltern gegeben habe. Der Vater beschwerte sich, wenn die Mutter ein Fenster öffnete, „ich will in meinem Leben nie mehr frieren“.

Genauso wollte Paul Trawa vermeiden, irgendwann wieder Hunger zu spüren. Trawa hungerte ständig, nachdem die Wehrmacht seine polnische Heimatstadt Radom eingenommen hatte. Damals hieß Paul noch Pejsach, der nicht so ganz genau wusste, an welchem Tag er wirklich zu Welt gekommen war. Seine Eltern hatten seine Schwester und ihn erst rund ein Jahr nach seiner Geburt beim Standesamt gemeldet und den 1. Juni 1924 eher getippt, als gewusst. Später erklärte Pejsach, er sei am 5. März 1923 geboren. Dahinter stand der Gedanke, je älter er sei, desto besser die Chancen, als Arbeitskraft gebraucht zu werden und somit zu überleben.

Im August 1942 weckten Schüsse, Gebrüll und Hundegebell die Familie Trawa im Ghetto von Radom. Die Deutschen trieben die Juden zum Abtransport zusammen. Auf der Straße riss ein SS-Mann Pejsach von seinen Geschwistern und Eltern weg. Nie sah er jemanden von ihnen wieder. Sie starben in Treblinka.

Pejsach bleibt in Radom. Die meisten Leidensgenossen arbeiten in der Waffenfabrik von Wytwórnia. Pejsach versorgt die Pferde der SS. Ein Angehöriger der Terrortruppe lässt sich einmal die Arbeitskarte von ihm zeigen. Aus reiner Lust schlägt er ihm mit dem Eisengriff seiner Peitsche auf den Kopf. Pejsach fällt in Ohnmacht.

In Auschwitz wird ihm 1944 die Kombination „B 2660“ tätowiert. Er schläft in der Baracke Nr. 13, nicht weit weg von Josef Mengele, der in Nr. 11 durch Experimente foltert und tötet und regelmäßig mit Peitsche und Pistole am Gürtel durchs Lager schlendert. Pejsach steht schon einmal in der Schlange vor den Duschräumen, drängt sich nach hinten und kann sich am Ende nicht erklären, wie er davon kam.

Im November 1944 landet er erst im Lager Sachsenhausen, dann in Dachau. Rüstungsminister Albert Speer orderte Sklaven für die unterirdische Produktion des Flugzeugs Messerschmitt Me 262. Ende April 1945 verlässt Pejsach das Außenlager Allach. Erst waren die Wachen verschwunden, dann kamen die Amerikaner.

Gerhard Gräber hörte von dem Mann zum ersten Mal beim Gassigehen mit dem Hund. Mit Rachelle Lavorato kam er dabei ins Gespräch. Sie kam 1956 in den USA zur Welt. Dort war aus Vater Pejsach, der Ende 1949 Deutschland verließ, Paul geworden war, der auf New Yorker Baustellen arbeitete. Im Jahr 1961 zog die Familie nach Frankfurt. In der Nähe der US-Kasernen an der Friedberger Warte eröffnete der KZ-Überlebende „Pauls Bierbar“. Die Amis schätzten einen Wirt, der fließend englisch sprach.

Ihre Deckel zahlten sie am Monatsanfang, wenn es Sold gab. In der Kneipe sei der Vater aufgegangen, sagt die Tochter, „vielleicht habe ich deshalb einen Gastronomen geheiratet“.