Isenburger Original Liesel Dörr erzählt Fast 100 Jahre gelebte Stadtgeschichte

„Die Derren“ und ihre Enkelin Jutta Eichner. Ihren 100. Geburtstag feiert Liesel Dörr in knapp zwei Jahren. Foto: Mangold

Neu-Isenburg (man) – Dreht es sich um Liesel Dörr, geht es automatisch auch um die Isenburger Historie des 20. Jahrhunderts. Die Enkelgeneration der Lokalberühmtheit aus dem städtischen Geschäfts- und Kulturleben lässt die Oma im Haus der Vereine erzählen. Der Verein für Geschichte, Heimatpflege und Kultur (GHK) hatte zu diesem Abend eingeladen.

Dabei wäre die als Elisabethe Himmelreich am 24. Dezember 1917 geborene Liesel Dörr beinahe schon kurz nach der Geburt gestorben. Denn ihre Mutter war nach der Entbindung an Lungenentzündung erkrankt und acht Tage später tot. Antibiotika und künstliche Muttermilch gab es noch nicht. Aber es gab Frau Wörtsche. Sie hatte selbst gerade ihr Baby verloren und die Hebamme sagte zu ihr: „Du kannst ein Leben retten.“

Damit meinte sie die kleine Liesel. Frau Wörtsche übernahm die Rolle der Amme, und Liesel nahmen die Großeltern in der Löwengasse 7 auf. Vater Wilhelm durfte sich nicht kümmern. Zur Beerdigung seiner Frau genehmigte die Reichswehr Kurzurlaub. Dann musste er zurück an die Front. So wie fast 20 Jahre später sein Schwiegersohn Walter.

„Die Derren“ sagen die Isenburger zu Liesel Dörr. Der Artikel gilt als Attribut bei Frauen. „Die“ heißen Opernsängerinnen und Schauspielerinnen. Die Derren liegt davon nicht weit weg. Jahrzehnte stand sie an Fastnacht in der Bütt. Außerdem sang sie im Gesangsverein Liederzweig, den sie 33 Jahre lang als Vorsitzende führte. Vor allem im eigenen Milchgeschäft hatte die Derren ihre Bühne. In dem stand sie bis 1976 mit dem Gatten Walter.

Claus Eichner (57) stellt ein Fotofamilienbuch über das Leben von Liesel Dörr vor, das er mit seiner Frau Jutta (55) zusammenstellte, einer Enkelin der Ur-Hessin, die am Heiligabend ihren 98. Geburtstag feierte. „Ich weiß nicht, worum es geht, aber ich darf jetzt babbele“, scherzt die Derren über ihre Schwerhörigkeit. Angela Föll, Vize-Vorsitzende des GHK, moderiert.

Wenn Liesel Dörr aus ihrem Leben erzählt, taucht der Bäcker Freund aus der Pfarrgasse auf. Bei dem verdingte sich Liesel, um den Verdienst auf der Kerb in den Wirtschaftskreislauf zurückfließen zu lassen. Für die Auslieferung eines Kuchens gab es drei Reichspfennige auf die Hand: „Anstrengend war das für die kleinen Füße.“

Und brutal ging es sowieso zu, in einer Zeit, als Gewalt gegen Kinder keineswegs als Misshandlung galt, sondern als gängiges Erziehungsmittel. Beim Bund Deutscher Mädel (BDM) war das nicht anders. Sonntags um zehn traf man sich zum Appell. Wer nicht enthusiastisch genug den rechten Arm streckte, fühlte die Quittung. „Der bekam eine geflammt“, erinnert sich Liesel Dörr. Im Jahr 1936 lernte sie Walter kennen, auf dem klassischen Marktplatz zur Eheanbahnung in jener Zeit: „Sonntags um 17 Uhr war Tanz im Schießhaus.“ Man habe auf eine Art getanzt, „über die würde die Jugend heute nur lachen“.

Liesel Dörr, mittlerweile mehrfache Ur-Ur-Oma, erlebte auch fürchterliche Momente. Sohn Walter starb 1961 kurz vor seinem 18. Geburtstag an einer chronischen Nierenkrankheit. Gatte Walter verbrachte nach dem Krieg vier Jahre in französischer Gefangenschaft. In dieser schwierigen Zeit half ihr das humorige Gemüt.

Das Milchgeschäft, in dem es auch sonst alles zu kaufen gab, lag an der Taunusstraße. Gegenüber wohnte Gerhard Gräber. Der berichtet, wie er regelmäßig morgens um halb vier dem Lieferbetrieb lauschte. Liesel Dörr weiß um den positiven Aspekt der Geräusch-Emission. „Durch uns, Herr Gräber, haben sie jahrelang den Wecker gespart.“ Der dankt mit einem Vers: „In Isebursch es niemand wunerd, die Derren werd sicher hunerd.“