Gretchentragödien des 19. Jahrhunderts Kindsmörderinnen: Vortrag im Isenburger Stadtmuseum

Marita Metz-Becker, Professorin der Kulturwissenschaften an der Uni Marburg, berichtete von den „Gretchentragödien“. Foto: Jost

Neu-Isenburg (zcol) – Kein leicht verdauliches Thema hatten zum Internationalen Museumstag im Stadtmuseum Haus zum Löwen Museumsleiter Christian Kunz und Bettina Stuckard, Leiterin des Kulturbüros, ausgesucht. Um Kindsmörderinnen sollte es gehen, dazu war Marita Metz-Becker, Professorin der Kulturwissenschaften an der Universität Marburg, als Gesprächspartnerin eingeladen worden.

Mit im Gepäck hatte die Wissenschaftlerin ihr Ende 2016 erschienenes Buch „Gretchentragödien: Kindsmörderinnen im 19. Jahrhundert.“ Den lokalen Bezug bekam das Thema durch Christel Malkemus: Die Kommunalpolitikerin wurde als Kind von einer verurteilten Kindsmörderin betreut.

Rund 100 persönliche Schicksale hat Marita Metz-Becker in ihren Studien aufgearbeitet und viele Parallelen in den Biografien der Frauen entdeckt. Diese waren einfache Mägde, die oftmals schon uneheliche Kinder hatten. Sie wurden geschwängert von den Dienstherren, dem Gesellen aus der Nachbarschaft oder dem Soldaten auf der Durchreise – und sie waren alle alleine, überfordert und in einer Notsituation. „Dabei ging es nicht unbedingt um die Ehre, sondern es ging ums Überleben. Wenn Arbeitgeber erfuhren, dass ihre Mägde schwanger waren, entließen sie sie. Dann hatten sie meist weder Geld noch ein Dach über dem Kopf“, erklärte Marita Metz-Becker.

Leichen im Schrank, im Stall, in Kisten

Der Kindsmord war dabei meist der letzte Ausweg. „Oftmals sind dem Mord nach der Geburt schon Abtreibungsversuche voraus gegangen“, sagte die Wissenschaftlerin. In vielen Beispielen legte sie dar, wie die Frauen ihre Neugeborenen noch vor dem ersten Schrei erdrosselten, erstickten oder noch gewaltsamer zu Tode brachten.

Die Frauen versteckten die Leichen im Stall, im Schrank, in Kisten oder warfen sie in den Fluss. Bis zu 15 Jahre gingen die Frauen für ihre Schuld ins Zuchthaus. Für die Väter, die die Frauen in vielen Fällen auch immens unter Druck gesetzt hatten, blieb die Tat folgenlos.

Christel Malkemus erzählte von ihren Erfahrungen mit Caroline Reuter, einer alten Dame aus der Nachbarschaft, von der sie als Kind in der Bahnhofstraße in Neu-Isenburg betreut wurde. Reuters Schicksal war dem der Frauen aus dem 19. Jahrhundert ähnlich. „Sie ging in Anstellung als Hausmädchen nach Frankfurt“, berichtet die Kommunalpolitikerin. Vom Dienstherren oder seinem Sohn geschwängert, bekam sie Geld angeboten und wurde verheiratet. Ihr Mann, ein Schreiner, vertrank das Geld sogleich.

„Meine Mutter hat mich im Zuchthaus geboren"

Das Baby kam auf die Welt und als Caroline Reuter ein zweites Mal schwanger war und in großer Armut lebte, konnte nach den Erzählungen der alten Frau ihr Körper keine Milch mehr produzieren. „Sie hat dem Baby ein Kissen auf den Kopf gelegt und gewartet, bis es nicht mehr atmete. Sie musste für die Tat zehn Jahre ins Zuchthaus. Dort gebar sie auch ihren zweiten Sohn. Er hat dann im ersten Weltkrieg ein Bein verloren und fuhr später immer singend im Rollstuhl durch Neu-Isenburg: ‚Meine Mutter hat mich im Zuchthaus geboren, deswegen habe ich kein Glück im Leben‘“, berichtete Malkemus.

Als sie als junges Mädchen erfuhr, was Caroline Reuter getan hatte, konnte sie es nicht glauben. „Das war solch eine liebe Frau, ich hatte sie so gerne“, berichtete die Isenburgerin, „hinter all diesen Fakten der Kindsmörderinnen stehen eben auch Menschen mit schlimmen Geschichten.“ Im Haus zum Löwen waren sich die Besucher in der anschließenden Diskussion einig: „Was haben wir für ein Glück, dass wir heute Verhütungsmittel haben. Denn die Kinder haben die Frauen – nicht die Männer. Daher kommt das Machtgefälle“, sagte eine der Besucherinnen.

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