Westend-Galerie Sight zeigt Tina Heuters Skulpturen Allzeit zeitlose Zeitzeugen

Verschlankte Frauenfiguren modelliert Tina Heuter.

Offenbach – Die Berliner Bildhauerin Tina Heuter, 1968 in Düren geboren, zählt zu den führenden deutschen Künstlerinnen ihrer Generation. Ihre Skulpturen aus Bronze, Papier und Beton pendeln zwischen Klassischer Moderne und aktuellen Positionen. In großer Klarheit ist Heuters so anmutige wie zerbrechlich wirkende Figurenwelt derzeit in Sabine Krempels Westend-Galerie Sight zu sehen.

Großartig haben es Künstlerin und Galeristin verstanden, verschlankte Einzelfiguren und Gruppen zum kontemplativen Ereignis zu machen. Wie wenige versteht es Heuter in ihrer Kunst des Weglassens und der Konzentration, das Wesentliche in großer Natürlichkeit in die dritte Dimension zu setzen, eine Mischung von ruhigem Ort und spannungsgeladenem Raum herzustellen. Was zunächst an Alberto Giacomettis ausgezehrte Stangenfiguren und existenzialistische Menschenbilder erinnert, erweist sich bei näherem Hinsehen als eigenständige Darstellungsform.

Heuter: „Ohne vorbereitende Zeichnung modelliere ich meine Figuren erst in Ton, um daraus einen Bronzeguss zu machen.“ Bei Papierarbeiten entwickelt sie Negativformen aus Silikon und formt das Modell, dann wird Seidenpapier Schicht um Schicht eingearbeitet und mit Leim und Lack verfestigt. Nähte lässt sie bewusst stehen, um den zerbrechlichen Charakter zu unterstreichen. „Am rauen, groben Material des Betons reizt mich der alltägliche Gebrauchscharakter, der das Metaphysische einer Bronze negiert.“ Kaum zu übersehen ist, wie die kultische Aura der eleganten Frauenfiguren dominiert. Oft sind es lebensgroße Prototypen, die zwar aus Momentaufnahmen und genauer Beobachtung entstanden sind, aber gelöst und zeitlos wirken; in ihrer Isolation allerdings auch unnahbar.

Heuter verstärkt diese Wirkung in der zehnteiligen Serie „Difference of waiting“, indem sie Bronzevariationen zu körperlichem wie geistigem Wartestand unter Glaskuppeln setzt, die in Italien für Heiligenfiguren produziert werden. Entstanden sind diese Studien in Coronazeiten, als Isolation unerwartet Hochkonjunktur hatte. Selbst eine klassisch wirkende Skulptur wie die stehende Frau mit Reif wird zur Symbolfigur für Social Distance.

Der leidenschaftlichen Bildhauerin („Ich kämpfe oft mit starken Selbstzweifeln“) genügt es nicht, ihrem überragenden Formgefühl Ausdruck zu verleihen. Herausfordernde, selbstbewusste, coole Frauenfiguren stehen für ihre eine Seite. Für die andere sitzen an der Metro-Station wartende Menschen, mal aus Papier, mal aus Bronze. Oder ein Mannsbild, das mit dem Kopf gegen die Wand rennt, darüber leuchtet in Neonschrift „No exit“.

Eine Figur steckt den Kopf in den Sand. Vieldeutig wirkt die durch einen Spiegel getrennte Doppelfigur „Missing me“, nicht nur humorvoll der große Bronze-Mops, der Frauchen neben sich herzieht.

Selbst an Himmelsfiguren legt Heuter Hand an: Die Variationen zur Engelsdarstellung „Broken“ irritieren fast schmerzhaft durch einen verlorenen Flügel. Das Elend mancher menschlichen Existenz spitzt sich zu in wie gehenkt wirkenden Papierfiguren, erschlafft und erschöpft von der Decke hängend.

Neben gültigen Formen für Schönheit und Anmut schafft Heuter immer wieder aus dem Leben gegriffene Menschenbilder mit bemaltem Pulli oder Emoji-Maske vor dem Gesicht. All ihre Figuren nennt sie „zeitlose Zeitzeugen“. Als Realistin zeigt sich die Berlinerin auch in der roten Leuchtschrift-Installation „too happy to be a good artist“: Nicht wenige Künstler sind am besten, wenn es ihnen richtig schlecht geht.

Heuter möchte provozieren, zum Denken anregen, „auch mit meinen Variationen zur Private Isolation, die ich täglich erlebe“. Ihr Werk ist reif für die Präsentation in einem großen Museum moderner Kunst.

Die Ausstellung

„Tina Heuter – Bronze, Beton, Papier“ ist bis 24. Februar in der Westend-Galerie Sight, Schillstraße 2, zu sehen. Geöffnet dienstags bis freitags, 16 bis 19, samstags, 11 bis 15 Uhr, nach Vereinbarung unter z 0157 83026658.

Von Reinhold Gries