Zehn Jahre Inklusion im Hochtaunuskreis Deutlich weiter als viele andere

Der Didaktik-Experte Prof. Dr. Peter Heiniger attestierte in seinem Festvortrag dem Hochtaunuskreis, in Sachen Inklusion deutlich weiter zu sein als weite Teile der deutschen Schullandschaft. Bild: HTK

Hochtaunuskreis (red) – Knapp 100 Gäste waren ins Ludwig-Erhard-Forum des Landratsamtes gekommen, um ein besonderes Jubiläum zu feiern. Zehn Jahre war es her, dass der Hochtaunuskreis mit der hessischen Landesregierung eine Kooperationsvereinbarung mit dem Titel „Modellregion Inklusive Bildung im Hochtaunuskreis“ geschlossen hatte. Die Vereinbarung war zwar nach fünf Jahren ausgelaufen. Doch der eingeschlagene Weg wurde seitdem konsequent weiterverfolgt. Jetzt, erneut fünf Jahre später, war es an der Zeit, Bilanz zu ziehen.

Der Start im Jahr 2013 war mit vielen kritischen Stimmen begleitet worden. Im Kern ging es um die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention, die Kindern und Jugendlichen mit Beeinträchtigungen oder Behinderungen noch umfassender die Möglichkeit geben soll, eine allgemeine Schule zu besuchen. „Wir sind das Thema damals offensiv angegangen, haben aber auch die klassischen Fördermöglichkeiten beibehalten“, erinnerte sich Landrat Ulrich Krebs in seiner Begrüßungsansprache. Er betonte aber auch: „Inklusion ist noch immer eine Herausforderung.“

Modellregion

Im Mittelpunkt der Entwicklung zur Modellregion stand der Abbau stationärer Förderschulsysteme. Das Land Hessen sicherte im Gegenzug zu, dass die dadurch frei werdenden Stellen in der Region belassen und zu Stärkung und Ausbau des inklusiven Unterrichts eingesetzt werden. Zudem wurde erprobt, dass Lehrkräfte eines Beratungs- und Förderzentrums Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigungen oder Behinderungen fast ausschließlich in einer allgemeinen Schule unterstützen. Begleitet wird dieser Wandel auch nach Abschluss der Modellregion von der Paula-Fürst-Schule in Usingen. Sie ist das Regionale Beratungs- und Förderzentrum, kurz REBUS genannt.

Paradoxes Ziel

An ihr wird deutlich, wie Inklusion die Schullandschaft im Hochtaunuskreis verändert hat. Mit dem Umzug von Wehrheim nach Usingen wurde 2018 aus der Heinrich-Kielhorn-Schule die Paula-Fürst-Schule – eine Schule mit einem paradoxen Ziel: Sie möchte keine Kinder in ihren Räumen unterrichten. Mit ihrer Unterstützung sollen Kinder mit Handicap in Regelschulen unterrichtet werden. Die pädagogischen Kräfte der Paula-Fürst-Schule unterstützen dabei die Lehrkräfte an den Regelschulen. „Es waren damals sehr viele Gespräche notwendig“, erinnerte sich auch die Leiterin des Staatlichen Schulamts für den Wetteraukreis und den Hochtaunuskreis, Dr. Rosemarie zur Heiden, an die Anfänge. Schulleiter, Lehrer, Eltern und Träger hätten dabei überzeugt werden müssen, dass Inklusion funktionieren könne. Das sei geglückt, weshalb man jetzt sagen könne, dass im Hochtaunuskreis inklusive Bildung weder Vision oder Utopie, sondern ein Stück weit Realität sei.

Didaktik-Experte

Damit griff die Schulamtsleiterin den Titel des Festvortrags von Prof. Dr. Peter Heiniger auf. Der Schweizer Didaktik-Experte hat das Thema Inklusion im Hochtaunuskreis seit vielen Jahren verfolgt und sprach zum Thema „Zehn Jahre inklusive Bildung im Hochtaunuskreis: Vision oder Utopie?“. Er attestierte dem Hochtaunuskreis, diesbezüglich deutlich weiter zu sein als große Teile der deutschen Schullandschaft. Heiniger warb dafür, neue Bildungsstrukturen zu erarbeiten. Dabei gehe es auch darum, beharrlich Überzeugungsarbeit unter Lehrkräften zu leisten. Heiniger untermauerte diese Forderung mit Zahlen, wonach 73 Prozent der Lehrkräfte in Deutschland an eine bessere Förderung von Kindern mit Handicap in Sonderschulen glauben und 71 Prozent der Lehrkräfte sich durch die Anforderungen der Inklusion überfordert fühlen. Allerdings drehen sich diese Zahlen um, so Heiniger, sobald Lehrer Erfahrung in der inklusiven Beschulung gesammelt haben. Dann würden 80 Prozent der Lehrkräfte diese Form des Unterrichts für sinnvoller halten.

Aufgaben selbst suchen

Dass bisherige Schulformen nicht 1:1 übertragbar seien, müsse dabei jedem klar sein. Schule müsse lernen, Themen so zu vermitteln, dass Schülerinnen und Schüler ihre Aufgaben selbst suchen können. Lernbegleitung, Coaching und Ermutigung werden so zu wichtigen Faktoren im Unterricht. Dies, so Heiniger, sei ein Prozess, der Zeit brauche.

Wie schwierig die Anfänge waren, verdeutlichten Dr. Erik Dinges vom Staatlichen Schulamt und Sascha Bastian, Fachbereichsleiter Schule und Betreuung im Landratsamt: Die damalige Pestalozzischule (heutige Maria-Scholz-Schule) wurde von einer Förderschule zu einer Grundschule mit einer Förderabteilung Sprachheil, die Paula-Fürst-Schule hat nur ganz wenige Schüler, nur die Hans-Thoma-Schule verzeichnet aktuell leicht steigende Schülerzahlen, was aber an den allgemein steigenden Schülerzahlen liege. Im Gegenzug wurde die Lehrerzahl von 40 auf über 100 Lehrkräfte nach oben geschraubt, die Schülerinnen und Schüler, aber auch Lehrkräfte im Rahmen der inklusiven Bildung unterstützen. „Von daher können wir sagen, dass wir die Ziele der Modellregion inzwischen bei Weitem überboten haben“, sagte Sascha Bastian.

Michael Glenzer, Fachbereichsleiter Kinder und Jugend im Landratsamt, wies in seinem Beitrag darauf hin, dass immer mehr Schülerinnen und Schüler Hilfe und Unterstützung der Kooperationsstelle bei der Bewältigung ihres Schulalltages benötigen. Die Zahlen hätten sich seit 2013 verzehnfacht.

Dies zu bewältigen sei nur möglich durch das Engagement der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Landratsamtes und der vielen Teilhabeassistentinnen und -assistenten, flexiblen sozialpädagogischen Fachkräften der Kooperationsstelle sowie der Kooperationspartner, die die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bewerben und ausbilden, um sie dann im Auftrag des Kreises an den Schulen einzusetzen.

Blick in die Zukunft

Abschließend richtete Brigitte Müller, Schulleiterin der Paula-Fürst-Schule, den Blick in die Zukunft. Nun gehe es unter anderem darum, eine gemeinsame Lehr- und Lernkultur zu schaffen und die Begleitung der Schülerinnen und Schüler beim Wechsel von der Schule in die Berufsschule weiter auszubauen. Das seien große Herausforderungen, aber sie sei überzeugt, dass gemeinsam auch diese Herausforderungen beim Thema Inklusion zu schaffen sind.

In ihrem Schlusswort bedankte sich Kreisbeigeordnete Katrin Hechler bei allen Beteiligten. Inklusion sei ein Thema mit vielen Fragen, für die es keine leichten Antworten gebe. Es habe Mut gebraucht, diesen Weg vor zehn Jahren einzuschlagen. „Heute können wir sagen, dass sich der Mut gelohnt hat. Auch wenn das Thema Inklusion noch längst nicht abgeschlossen ist.“