BURGFESTSPIELE Rilke-Projekt und Maybebop begeistern Perfekte Sommerabende

Mit perfektem Gesang, urkomischen Texten und raffinierten Choreografien ziehen (von links) Christoph Hiller, Lukas Teske, Oliver Gies und Jan Bürger das Publikum schnell in ihren Bann. Bild: Strohfeldt

Dreieich – Der Mann weiß, wie man Worte beseelt. Wie stark die Bühnenpräsenz von Dietmar Bär – seit mehr als 25 Jahren bekannt als Kölner Tatort-Kommissar Schenk – ist, das erlebt an diesem sehr warmen Sommerabend eindrucksvoll, wer eine Karte fürs Gastspiel des Rilke-Projekts hat ergattern können. Schlagartig ist es mucksmäuschenstill im Burggarten, als der 62-jährige Dortmunder etwas grimmig guckend ans Mikro tritt, um dem Publikum der Burgfestspiele die Gelegenheit zu geben, sich von den Versen von Rainer Maria Rilke (1875-1926) faszinieren zu lassen. Der „Tatort“-Freddy ist nach Sekunden vergessen.

Mit Dietmar Bär, Ralf Bauer und Nina Hoger verneigen sich am Freitagabend vor ausverkauftem Haus gleich drei Schauspiel-Stars vor dem großen österreichischen Lyriker. Obwohl 100 Jahre alt, sind Rilke-Texte höchst modern. Die prominenten Akteure sprechen sie mit ihren klaren, geschulten Stimmen direkt ins Publikum – und sofort setzt irgendwie ein Wohlgefühl ein. Viele sitzen dort händchenhaltend und hören sich die Gedichte und Textpassagen aus Briefen an.

Doch ist dieser Abend mit dem Programm „Das ist die Sehnsucht“ des vor zwei Jahrzehnten vom Frankfurter Komponisten-Duo Angelica Fleer und Richard Schönherz gestarteten Rilke-Projekts etwas völlig anderes als eine reine Lesung. Dafür sorgt die Verbindung mit Musik, dafür sorgen vor allem auch die famosen Musiker: Sänger Dominik Steegmüller, Pianist und Projekt-Mitinitiator Richard Schönherz, Mathias „Maze“ Leber (Keyboard, Akkordeon), Schlagzeuger Andreas Neubauer und mit Ali Neander ein ebenfalls bestens bekanntes Gesicht an verschiedenen Gitarren. Mit Rilke verbindet man vor allem wehmütige Verse. Doch der Lyriker hat durchaus auch Hang zu gutem Witz und Ironie, wie Bär beweist. Mit süffisanten Zeilen von 1919 über die Natur in der Schweiz zum Beispiel, die Rilke für übertrieben hält. Zu malerisch, zu idyllisch, und überhaupt zu viele Berge.
 hov/hok

Fortsetzung auf Seite 3

Bewegend: Mit „Ich finde die Welt ist aus den Fugen“ beginnt ein Text, in dem es um die Welt geht und was wir damit machen („ein ins Todestechnische verschlagener Geschäftstrieb, ein enormes Kriegsexperiment“). Offenkundig ganz bewusst hat Bär das Datum, wann diese Zeilen geschrieben wurden, ans Ende des Beitrags versetzt – und es ist interessant, die Reaktion des Publikums zu beobachten: Denn der Auszug eines Briefs von Rilke an Marianne Mitford wurde 1915 geschrieben – vor 108 Jahren, doch man denkt, er könnte aktueller kaum sein.

Für einen weiteren Höhepunkt sorgt am Samstagabend Maybebop – ebenfalls vor ausverkauftem Haus. Die vierköpfige A-cappella-Gruppe kann zum 20-jährigen Bestehen mit einem „Best of“ aus dem Vollen schöpfen – mit perfekt abgestimmtem Gesang, urkomischen Texten, auch mit Haltung, und raffinierter Choreografie. „Jeder Abend ist anders“, versprechen Oliver Gies (Bariton), Jan Bürger (Countertenor), Lukas Teske (Tenor) und Christoph Hiller (Bass) und haben auch vorab geäußerte Wünsche eingearbeitet.

Zu Beginn erinnern sie an ihren letzten Auftritt 2016 bei den Festspielen, als es wie aus Kübeln schüttete und sich vor der Bühne ein See bildete. Und einige der Besucher waren damals dabei. Als es am Samstagabend kurzzeitig dunkel wird, kann das Quartett beruhigen, dass der Regen vorbeizieht. So steht einem weiteren wunderschönen Sommerabend in der Burg nichts im Wege – mit dem perfekten Soundtrack. Die vier Stimmen verbinden sich zu einem harmonischen Klangkörper mit Ausflügen in den Jazz, zu Pop, Musical und ins Volkslied. Hinzu kommen umwerfende Texte, wenn beispielsweise Oliver Gies über seine Backkünste (Raggamuffin) singt, Lukas Teske Helikopter-Eltern auf die Schippe nimmt oder Jan Bürger der Liebsten verkündet, dass sie nur zweite Wahl ist. Doch das Quartett kann auch ernster. „Gegen die Natur“, mit Christoph Hiller als Leadsänger, wird zum Aufruf für mehr Toleranz und gegen vorgefasste Meinungen. Bei einem Vorgeschmack auf das neue Programm geht es um die negativen Seiten der sozialen Medien.

Wieder heiter wird es beim Spiel mit dem Publikum, als zwei Besucherinnen Melodien von Volksliedern erraten müssen, wozu Maybebop aber andere Texte singt. Und bei „Holy Queen“ aus Sister Act darf eifrig mitgeklatscht werden. Lange muss Besucherin Susanne auf die Erfüllung ihres Wunsches warten. Den hat sich das Quartett für die vorletzte Zugabe aufgehoben. Mit dem „Erlkönig“ von Goethe und Schubert beweisen die Vier eindrucksvoll, dass alte Balladen im neuen Gewand weiterhin zünden können.

Die stürmischen Ovationen rühren die vier Sänger sichtlich. Nach der Pandemie können sie sich wieder über ausverkaufte Konzerte freuen. „Danke, dass Ihr uns nicht vergessen hab“, ruft Lukas Teske. Wie könnte man eine solch einzigartige Gruppe vergessen?

Zufriedene Gesichter auch bei Festspielleiter Benjamin Halberstadt und Veranstaltungsleiterin Maria Ochs. Bislang laufe alles wie gewünscht. Auffällig sei, dass sich jeden Abend ein anderes Publikum einfindet. Von Routine können beide aber nicht sprechen. Auch an einem so schönen Abend wie am Samstag gehen die Gedanken schon ans nächste Gastspiel und dann anstehende Aufbauarbeiten. Übrigens lohnt es sich, auch nach den Vorstellungen die einmalige Atmosphäre im Burggarten zu genießen. Das nutzen die Sänger von Maybebop, die für Autogramme, Bilder und Gespräche zur Verfügung stehen. Und Dietmar Bär soll bis nach Mitternacht geblieben sein.  hok/hov