Gedenkveranstaltung: Horst Schäfer berichtet über Rolle der Dietzenbacher Kirchen Pfarrer verbreitet die NS-Ideologie

Hubert Kluß (links) berichtet über die Vertreibung aus Schlesien. Autor Horst Schäfer hat die Rolle der Kirche in Dietzenbach während der NS-Zeit erforscht. Bild: Wittekopf

Dietzenbach – Über die Rolle der Dietzenbacher Kirchen wahrend der NS-Herrschaft hat Horst Schäfer im Gemeindesaal der Christuskirche bei einer Gedenkveranstaltung informiert. Schäfer ist Mitglied der Initiative „Aktives Gedenken in Dietzenbach“ und hat das Buch „...und tilg nicht unser Angedenken“ über die Schicksale jüdischer Familien in Dietzenbach geschrieben.

Die Gedenkveranstaltung war von der evangelischen Christusgemeinde und dem Arbeitskreis „Aktives Gedenken“ organisiert worden, neben Schäfer erzählte der Dietzenbacher Hubert Kluß von seiner Flucht aus Schlesien, die ihn einst nach Dietzenbach verschlug. Für die musikalische Begleitung sorgte die Gruppe Ensemble Saitensprung, die jiddische Lieder wie „Donna, Donna“ spielte.

Schäfer berichtete zunächst über Theodor Weber, der in der Zeit von 1923 bis 1938 als evangelischer Pfarrer in Dietzenbach wirkte. Nach der Machtergreifung der Nazis im Jahr 1933 wurde der Kirchenvorstand gegen regimefreundliche Mitglieder gewaltsam ausgetauscht und Weber gestaltete das Gemeindeblatt „Heimatlänge“ um. So erzählte Schäfer von einer Anzeige, in der die Gemeinde aufgefordert wurde, „nur in christlichen Geschäften“ einzukaufen. Schließlich folgte die Rubrik „Der Führer hat gesprochen“, in der die Weltanschauung der Nazis verbreitet wurde. Etwa 1936 führte Weber die Rubrik „Worte große Männer“ ein und veröffentlichte den Auszug einer Rede Heinrich Himmlers. Nur wenige Wochen nach den Novemberpogromen 1938 erlitt Weber einen Nervenzusammenbruch und arbeitete nach langer Krankheit noch in der Waldkolonie in Darmstadt, wo er 1954 starb.

Im zweiten Teil des Abends erzählte dann Hubert Kluß von seiner Vertreibung aus Schlesien. „Wir waren vier Brüder.“ Sein Heimatdorf Großgiesmannsdorf, heute Goswinowice, liegt ungefähr 50 Kilometer südlich von Breslau. Sein Vater war Deutscher, seine Großeltern mütterlicherseits waren jüdischer Herkunft, doch seine Mutter wurde katholisch getauft. Als im Februar die Rote Armee nur noch wenige Kilometer vom Dorf entfernt war, entschied sich die Mutter zur Flucht. Hubert Kluß war damals gerade einmal sieben Jahre alt. Am 16. Februar 1945 bestieg die Familie den Zug, über mehrere Stationen gelangten sie nach Oberösterreich und fanden in einer Flüchtlingsunterkunft mit tausend anderen Flüchtlingen Unterschlupf. Schließlich erreichten sie Wels-Thalheim, eine Stadt mitten in Oberösterreich. „Wir wurden zuerst im Schulgebäude untergebracht“, später fand die Familie Unterkunft auf einem Bauernhof in der Nähe der Stadt unter. Ende April 1945 sah Kluß eine große Menschenmenge, wie sich später herausstellte, waren es KZ-Häftlinge auf einem Todesmarsch. Einige von ihnen seien auf die Wiese gegangen, um Gras zu essen. „Ich bin beim Anblick sehr erschrocken, denn ich dachte mir, dass man doch kein Gras essen kann“, berichtet er. Hautnah bekam er die Brutalität der Nazis mit: „Direkt in unserer Nähe saß dann eine erschöpfte Mutter mit ihrem Kind und ein Soldat stand vor ihr, mit einem Gewehr auf sie gerichtet. Er sagte, dass sie weiter gehen solle, doch sie konnte nicht mehr.“ Als der Soldat sie erschießen wollte, sei ein Kamerad gekommen und habe das Leben der Frau gerettet.

Nach dem Krieg kam die Familie nach Niedersachsen, wo sie sich niederließ. Später entschloss sich Hubert Kluß zu einem Ingenieurstudium, das ihn nach Frankfurt führte, wo er seine Frau Renate kennenlernte. Gemeinsam zogen sie dann nach Dietzenbach.

Der „Arbeitskreis Aktives Gedenken in Dietzenbach ist Teil des Vereins „Zusammenleben der Kulturen“.

Von Burghard Wittekopf