An der Volkshochschule Offenbach lernen Erwachsene Lesen und Schreiben „Ich will das unbedingt können“

„Eis essen und lachen“ schreibt Carmen Herdt-Ilic an die Tafel. Es ist die Lösung eines Wort-Rätsels.

Offenbach – 12,1 Prozent der erwachsenen Menschen in Deutschland können gar nicht oder nur kaum lesen und schreiben. Das ergab die sogenannte LEO-Studie der Uni Hamburg. Auf Offenbach hochgerechnet sind das rund 11 000 Einwohner. Am Grundbildungszentrum der Volkshochschule Offenbach (VHS) können sie dies lernen.

„Die erste Hürde ist immer die schwerste, nämlich, sich zu überwinden, hierher zu kommen“, sagt Projektkoordinatorin Jennifer Haines-Staudt. Deshalb stehe ihre Türe in der VHS auch immer offen. Sie möchte die fehlenden Lese- und Schreibkenntnisse nicht als Schwäche sehen. „Die Menschen haben ja stattdessen andere Kompetenzen entwickelt, sonst kämen sie damit nicht zurecht“, so Haines-Staudt. Tatsächlich sind laut LEO-Studie zwei Drittel von ihnen berufstätig. Zwar arbeitet der größte Teil in einfachen Tätigkeiten, aber es befänden sich auch Elektriker oder Fahrzeugführer darunter.

Gründe, nicht lesen und schreiben zu können, gibt es viele. So ist es eine bunte Schar an Menschen, die am Mittwochabend über Arbeitsblättern in der VHS sitzt und übt. Da ist etwa der Mann aus Pakistan, der von seinen Eltern nicht in die Schule, sondern gleich zu einem Schmuckmacher in die Ausbildung geschickt wurde. Sein Sohn geht hier auf das Gymnasium. Jetzt möchte auch der Vater Lesen und Schreiben können. Gleich drei Frauen kommen aus Afghanistan. Während eine junge Mutter von fünf Kindern nur eine Grundbildung in einer Koranschule bekam, hat eine ältere Frau bereits als Lehrerin für Dari und Paschtu gearbeitet. Nun muss sie mit einer neuen Schrift und einer neuen Sprache zurechtkommen.

Zunächst müssen die Schüler an diesem Abend ein Wörter-Rätsel lösen. Danach kommt eine einfache Leseübung. Geduldig geht Dozentin Carmen Herdt-Ilic auf jeden ein, bis auch der Letzte den Text verstanden hat. Damit das Lernen an der Lebenswelt der Menschen orientiert bleibt, gehen die Teilnehmer donnerstagabends auf einen sogenannten Lesespaziergang und fotografieren, wo ihnen Schrift im öffentlichen Raum begegnet. Das kann etwa das Schild „Feuerwehrzufahrt“ sein. Am Jahresende basteln sie aus ihren Bildern einen Kalender.

Oft spielt offenbar das Umfeld eine große Rolle, wenn sich Menschen entschließen, doch noch Lesen und Schreiben zu lernen. Deshalb schult Jennifer Haines-Staudt auch Mitarbeiter von Behörden, wie sie Analphabeten erkennen und sensibel ansprechen können. Auch die 34-jährige Franceska sitzt an diesem Abend über den Arbeitsblättern. Sie kam als Sechsjährige samt Eltern aus Sizilien hierher. Durch einen angeborenen Fehler an den Stimmbändern konnte sie nicht richtig sprechen. „Die anderen Kinder haben sich immer halb krankgelacht, wenn ich vorlesen musste“, berichtet sie. Bald verliert sie die Lust an der Schule und verlässt sie ohne Abschluss. Sie geht arbeiten, unter anderem acht Jahre als Verpackerin in der Logistik. Bei Formularen hat ihr bisher ihr Freund geholfen, und auch die Nachbarn haben ihr öfter etwas vorgelesen. Allerdings sei der Leidensdruck, ständig auf Hilfe angewiesen zu sein, immer größer geworden.

Das Fass zum Überlaufen brachte ein Arztbesuch, bei dem sich die Mitarbeiter weigerten ihr zu helfen, den mittlerweile obligatorischen Fragebogen auszufüllen.

Erst als sie es sich bescheinigen ließ, dass sie nicht lesen und schreiben kann, habe man sich in der Praxis dazu herabgelassen, ihr zu helfen. „Ja, es hat lange gedauert, dazu zu stehen“, sagt sie. „Aber ich kämpfe ja jetzt auch. Ich will das unbedingt können.“

Von Peter Klein