Ab dem Jahr 1910 ließ die Firma Altschul & Grundmann in der Hanauer Straße Zigarren rollen Ältestes Industriegebäude verwandelt sich in Wohnhaus

Walter Schäfer (l.) und Bruno Schmück erzählen von der ehemaligen Zigarrenfabrik Altschul & Grundmann, die schließlich der hessischen Spiralfederfabrik Platz machte. Foto: man

Mühlheim (man) – Als hätte sich zwischen all den Supermärkten und Discountern mitten in einem Ballungsgebiet über die Jahrzehnte ein Tante-Emma-Laden gehalten, so wirkt es, dass die 1928 gegründete hessische Spiralfederfabrik bis Dezember 2018 an der Hanauer Straße 73 produzierte. Noch früher ließ hier die Firma Altschul & Grundmann ab 1910 Zigarren rollen. Die Immobilie wird jetzt ihren Charakter verlieren und sich hin ein Wohnhaus verwandeln.

Bruno Schmück, der Technikpapst des Geschichtsvereins, zählte selbst zur Kundschaft der Spiralfederfabrik. Dem Mann gehört unter anderem ein fahrtüchtiges Motorrad aus dem Hause „Ardie“. Ein Hersteller, der zwischen 1919 und 1958 in Nürnberg seine Maschinen produzierte. An der Hanauer Straße hatte Schmück einmal zehn Zugfedern „mit eingewickelten Enden“ für seine Ardie nach Maß herstellen lassen.

Die Fabrik fertigte im Laufe ihrer Geschichte etwa Druck-, Zug- und Spiralfedern für Uhren und Grammophone. „Sie deckten von der Kleinserie bis zur industriellen Serienproduktion alle Nachfrage ab“, erklärt Schmück. Vier Gesellen und ein Meister arbeiten noch gegen Ende in dem Ausbildungsbetrieb.

Längst sei es üblich, sich über einen Katalog im Internet eine Feder auszusuchen. Bis zum Schluss produzierten die Dietesheimer nach Zeichnungen der Kundschaft. „Ein reines Nischengeschäft“, betont Schmück. Für eine Übernahme hätte sich niemand finden lassen.

Bevor die hessische Spiralfederfabrik an der Hanauer residierte, produzierten vor allem Frauen in dem Gebäude etwas ganz anders. Im Jahr 1895 beschäftigte die Tabakindustrie alleine im Kreis Offenbach über 2000 Lohnabhängige; 1910 gründeten der Darmstädter Erich Grundmann und der Offenbacher Emil Altschul ihre Firma.

Zigarrenrollen gehörte nicht gerade zu den topp bezahlten Arbeiten, wie Bruno Schmück bemerkt. Frauen erhielten deutlich weniger Lohn als Männer. Im Jahr 1914 verdiente eine „Zigarrenwicklerin“ 11,40 für die Sechstagewoche bei zehn Stunden Arbeit pro Tag. Der „Zigarrenmacher“ bekam 15 Mark. Ebenfalls nicht mehr als ein Hungerlohn, der heute etwa der Kaufkraft von 80 Euro entspricht. Ein Belegschaftsbild von 1910 zeigt 50 Firmenangehörige, 43 Frauen und sieben Männer.

Mittlerweile gilt Rauchen als verpönt. Noch bis in die 80er Jahre steckte bei vielen Opas zwischen Zeige- und Ringfinger der „Stumpen“. „Rauchen gehörte zum Bild von Männlichkeit“, erinnert sich Walter Schäfer, ebenso wie Schmück Vorstandsmitglied im Geschichtsverein. Ältere erinnern sich noch gut an Fernsehzeiten, als sich Erik Ode, alias Kommissar Keller, eine Kippe anzündete, wenn er einen Fall durchdachte, als Inspektor Columbo niemals ohne Zigarre scheinbar schusselig die Verdächtigen befragte.

Vor Altschul u. Grundmann fertigte nach Recherchen des Geschichtsvereins bereits die Firma Flink & Grünsfelder in den 1889 entstandenen Räumen Zigarren. „Damit ist es das älteste noch erhaltene Industriegebäude in Dietesheim“, konstatiert Bruno Schmück. Was heute niemand mehr ahnen kann, „wir waren einmal die größte Tabakregion in Europa“. Mitte des 19. Jahrhunderts galt den Lämmerspieler Landwirten der Anbau als wichtige Einnahmequelle. Walter Schäfer gibt allerdings zu bedenken, dass heimischer Tabak nicht unbedingt für Hochgenuss beim Raucher stand. Das Gewächs aus hiesigen Breitengraden füllte die Stumpen, nicht die edlen Erzeugnisse, die sich jene nicht leisten konnten, die sie bei Altschul & Grundmann rollten. In Dietesheim kamen die Tabakblätter aus fernen Ländern wie Java, Kuba oder Borneo. Zigarren von Wert, die in einer Banderole steckten, die in einer Kiste mit Etikett langen.

Beides lieferte die 1856 gegründete Druckerei Illert, die Heinrich Illert als 19-Jähriger in seinem Elternhaus in Mühlheim gründete. Im Gegensatz zu den meisten Firmen von einst existiert die Druckerei als Illert GmbH & Co. nach wie vor und stellt in Hanau Verpackungen und Etiketten her.

Vor Altschul u. Grundmann fertigte die Firma Flink & Grünsfelder

in der Fabrik Zigarren. Baudatum soll 1889 sein, damit wäre das Gebäude das älteste erhaltene Industriegebäude in Mühlheim Dietesheim.

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