Schlingensief, Krebs und Parsifal „Sankt Christoph“ im Theater Willy Praml

Michael Weber als Christoph Schlingensief. Foto: Faure

Ostend (jf) – Ein Mann mit einer Strubbel-Perücke liegt lächelnd in einem Krankenbett. Er sitzt aufrecht. Hart auf dem Metallrahmen, eine Matratze fehlt. Auf seinem T-Shirt steht „Make a change“. Ein seltsames Boudoir, in dem ein seltsamer König zu einem seltsamen Lever empfängt. Im Hintergrund läuft ein spanisches Lied, spanisch klingende Lautmalerei von Helge Schneider. Der außergewöhnliche Musiker polarisiert genauso wie Christoph Schlingensief, der Aktionskünstler und Provokateur. Beide kannten einander von Jugend auf, Schneider wurde nur fünf Jahre früher geboren als Schlingensief.

Ein besonderer Tag sei heute, sagt Schlingensief alias Michael Weber – beide stammen übrigens aus dem Ruhrpott –, es gehe in die Röhre. „Ich habe fast Angst davor, wieder Hoffnung zu bekommen.“ Im Januar 2008 wurde bei Schlingensief, der im Oktober 2007 48 Jahre alt geworden war, Lungenkrebs festgestellt. Der linke Lungenflügel wurde entfernt. Die Wunde blieb. „Zeige Deine Wunde“ heißt eine Rauminstallation von Joseph Beuys (1976). Beuys sagte: „Eine Wunde, die man zeigt, kann geheilt werden.“ Schlingensief zeigte seine Wunde; er thematisierte seine Krebserkrankung in einer Oper und im Tagebuch „So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein“ (2008). Postum erschien 2012, zwei Jahre nach seinem Tod, Schlingensiefs autobiografisches Buch „Ich weiß, ich war’s“. Texte aus beiden Büchern sind die Grundlage für Michael Webers Stück. Der Besucher wird weniger mit einem provozierenden, sondern viel mehr mit einem nachdenklichen Schlingensief konfrontiert, der bekennt: „Ich bin gern auf der Welt.“ Das Publikum kann den Gedanken folgen, die den eigenwilligen Künstler 2009 trieben, ein Festspielhaus in Afrika aufzubauen – mit Theater, Kirche, Schule, Sozialstation. „Eins muss klar sein: Das Operndorf ist keine Hilfsorganisation, kein Entwicklungshilfe-Projekt! Und wir werden keine Leute erlösen, weder hier in Europa noch in Burkina Faso.“ Inzwischen finden in dem Operndorf offene Ateliers mit Kindern statt, es lebt – allen Unkenrufen zum Trotz.

„Gott zerstört ein Glückskind"

Schlingensief sagt im Stück: „Die größte Enttäuschung für mich ist: Gott zerstört ein Glückskind.“ Während er in einem Moment verzweifelt vor dem Krankenbett kniet, stürzt er im nächsten aufbegehrend hinaus in die Novemberkälte, sucht den Dialog mit Gott, auf dem Kopf die Dornenkrone, auf dem Fenstersims stehend wie gekreuzigt. „Dein größtes Versäumnis ist dein Vertriebssystem“, brüllt er. „Warum existiert das Leid nicht mehr als Währung?“, fragt er. Wieder in der nur wenig wärmeren Halle, schreibt Schlingensief in großen Buchstaben an die Wand: „Hiermit trete ich aus der Kunst aus.“ Das Leitmotiv von Joseph Beuys.

Die Kinder Lena-Marie, Emre und Jonas bilden inzwischen draußen einen Laternenumzug zum Martinstag. Schlingensief bietet ihnen – dem Heiligen Martin gleich – ein Kleidungsstück an. Was sie nicht wollen. Hat Schlingensief nicht schon geteilt? Seine Lunge zum Beispiel. Da ist „Parsifal“ nicht weit, die Musik ergreift: „Musik ist ein absurder Rausch“, sagt Schlingensief. Und erinnert sich an die skurrile Begegnung mit Katharina, Gudrun und Wolfgang Wagner in der Beethoven-Suite eines Berliner Hotels. Er, Schlingensief, soll 2004 den „Parsifal“ in Bayreuth inszenieren. Macht er. Auf seine Weise.

Michael Weber ist es gelungen, mit sparsamsten Requisiten und ungeheurem Körpereinsatz einen Schlingensief zu zeichnen, der weniger schockierend als vielmehr nachdenklich, aber leidenschaftlich-nachdrücklich wirkt in einer „Gesellschaft von Selbstbeschädigten und Selbstgeschädigten“, wie der Aktionskünstler, der sich in all seinen Projekten radikal persönlich einbrachte, seine Umwelt bezeichnete. Ein erstaunliches und ergreifendes Stück, das im Februar 2017 im Theater Willy Praml wieder zu sehen sein wird.