„Wir sind alle Flüchtlinge“ Heimatloser Gedichtsverein zu Gast im Haus der Stadtgeschichte

Der Heimatlose Gedichtsverein plus Gast bei der Arbeit (von links): Wolfgang Löll, Rudolf Fauerbach, Dieter Eckart, Claudia Bechthold und Markus Rueckert. Ausnahmsweise an diesem Abend nicht dabei war Dr. Roland Krebs. Die Gruppe las zum Thema „Fliehen und Flüchten“. Foto: Lill

Heusenstamm (eml) – Die Wahrheit: Eigentlich sind wir alle Flüchtlinge. Fliehende, mindestens. Vielleicht nicht vor Krieg, nicht vor Diktatur und Tod. Aber vor Verantwortung, vor Realität, vor uns selbst.

„Geflohen wurde immer schon“, sagt Markus Rueckert vom Heimatlosen Gedichtsverein. Die Gruppe aus OP-Redakteurin Claudia Bechthold, Dieter Eckart, Rudolf Fauerbach und Rueckert rezitierte unlängst im Haus der Stadtgeschichte in der Eckgasse in Heusenstamm Verse, Fragmente, Bibelstellen zum Komplex „Fliehen und Flüchten“.

Zweckmäßig politisch, angenehm vielfältig: Der moralische Zeigefinger bleibt bei diesem brisanten Thema selbstverständlich nicht in der Faust, droht in Anekdoten und Aphorismen aber höchstens angedeutet. Dagegen eröffnet die Textauswahl vieles, was sonst bei der Debatte um Weglaufen und Bleiben eher im Verborgenen schlummert.

Zahlen und Poesie

Die Gruppe beschwört zum Beispiel den historischen Blick. „1945 kamen auf 3000 Einwohner etwa 1700 Flüchtlinge“, heißt es. Heute sind es bei mehr als 18. 000 ungefähr 200. Und: „Nach dem 30-jährigen Krieg war die Schlossstadt wie ausgestorben, es mussten Menschen aus Österreich kommen. Heusenstamm hat eigentlich mit einer Flucht begonnen.“

Nackte Zahlen gepaart mit prunkvoller Poesie. Viel von Brechts cleverer Absurdität („Kinderkreuzzug“, „Flüchtlingsgespräche“), ein bisschen Rilke („Shawl“), Heine („In der Fremde“) und Else Lasker-Schüler („Weltflucht“). Auch Goethe („Hermann und Dorothea“) sowie Hesse („Blauer Schmetterling“) fehlen nicht, ergänzt von außergewöhnlichen Ausflügen, etwa nach Japan zum Haiku-Genie Basho. Und Texten aus der Bibel.

Am Anfang der etwa 50-minütigen Lesung steht das Matthäus-Evangelium, die Flucht nach Ägypten. Am Ende: Exodus, Auszug aus der Gefangenschaft, ein geteiltes Meer. Die hoffungsvollste aller Heimatsuchen.

Flucht ist Schrei einer Sehnsucht nach Sicherheit

Ohnehin wird an diesem Abend vor allem klar: Flucht ist stets auch der Schrei einer Sehnsucht nach Sicherheit, ist Irren, ist Finden. Passend, dass der Heimatlose (!) Gedichtsverein in den Fragen nach Zugehörigkeit und Identität wühlt. Die etwa 30 Besucher lauschen, nicken, lachen ab und an. Dazu die melancholisch-meisterhaften Klaviertöne von Wolfgang Löll. Finger taumeln wie Schritte über Tasten, laufen, hetzen im Stakkato. Fliehen. Dazwischen zählt die Gruppe diejenigen Genies auf, die im Zweiten Weltkrieg Deutschland verlassen mussten: Einstein, Klee, Adorno, Brecht – Namenhülsen platzen wie Warnungen in die Stille. Flüstern die Frage, warum wir uns anmaßen, heute zwischen legitimen und falschen Gründen zu unterscheiden. Denn zumindest Künstler haben ihr Heil schon immer in der Flucht gesucht. Und eine Perspektive in der Poesie gefunden, einen Unterschlupf in der Sprache. Wenn kein Baum, Haus, Leben für die Heimat reicht, dann eben kleine Tore in schwarzer Tinte.