Im Mittelpunkt des Glaubens steht eine Neuoffenbarung. Gründer Man-Hee Lees Anspruch ist es, die zwölf Stämme Israels zu versammeln, um die Welt aufs Jüngste Gericht vorzubereiten. Einerseits durch offene Werbung mit Logo auf Flyern, Internetseiten und Youtube-Kanälen, andererseits durch Tarnung und Täuschung. Es gibt Tarnorganisationen wie Friedens- und Jugendorganisationen oder Gruppen für Frauengerechtigkeit, die nach außen behaupten, unabhängig zu sein, deren Vorsitzender aber zugleich der Shincheonji-Gründer ist.
In Frankfurt hat die Gruppe eigenen Angaben zufolge rund 500 aktive Mitglieder. Wie aktiv Shincheonji in Frankfurt ist, sehen Koch und Lorenz an der steigenden Zahl von Betroffenen und Angehörigen, die in Sprechstunden kommen und Rat suchen. Vorwiegend seien die Mitglieder (und Aussteiger) junge Menschen. Koch berichtet, er habe dieses Jahr 47 Beratungsanfragen von Aussteigern und Angehörigen gehabt. Das Level sei seit drei Jahren konstant hoch. Lorenz hatte 2021 bisher 15 Beratungsanfragen, deutlich mehr als in den Vorjahren.
„Uns fällt besonders auf, dass es sich um Beratungsfälle mit dramatischen Hintergründen handelt“, sagt Koch. Mitglieder brechen andere Beziehungen außerhalb der Religionsgemeinschaft ab und sind bald nur noch mit ihrer Neureligion beschäftigt, oft viele Stunden täglich. Dazu verstricken sie sich in heraufbeschworenen Ängsten vor der Rache Gottes und Höllenstrafe.
Psychische Probleme sind nicht selten. Das zeigt auch der Bericht einer Aussteigerin aus dem Rhein-Main-Gebiet, die anonym bleiben möchte. Sie kam im Sommer 2017 auf der Zeil mit einem Shincheonji-Missionar ins Gespräch, der vorgab, Theologie zu studieren. Er erzählte, er habe mit einem Kommilitonen eine Vortragsreihe erarbeitet. Ob sie sich den Vortrag anhören und Feedback geben könnte.
Die Frau, bis dato evangelisch, Kirchgängerin und Bibelleserin, stimmte zu. Sie wollte helfen. Also traf sie sich mit den Studenten in einem Café und hörte sich den Vortrag an, zu dem auch andere „Testhörer“ gekommen waren – die, wie sie später erfuhr, nicht zufällig da waren. In Wirklichkeit handelte es sich um Mitglieder, die eine Rolle vorspielten, um die Frau zu beobachten und zu beeinflussen.
Später habe der Student sie eingeladen, bei einem anderen Vortrag dabei zu sein, der mehr in die Tiefe gehe. Fünf oder sechs solcher Treffen im Café gab es, bevor die Frau erstmals ins Shincheonji-Center kam. Sechs Monate „Indoktrinierung“, wie sie es nennt, später war sie Mitglied der Gemeinde, des Simon Stammes. „Ich fühlte mich gut, draußen war es hektisch, innerhalb der Gruppe waren alle sehr nett und ich fühlte mich sicher“, beschreibt sie. Doch je länger sie dabei war, desto zeitintensiver wurde die Zugehörigkeit.
Bald stand sie selbst in der Fußgängerzone, sprach Menschen an und führte Gespräche im Center. Sechs Tage die Woche war sie eingespannt, stand morgens um sechs auf, ging nachts um eins ins Bett. Ihre Familie wurde misstrauisch, doch sie log sie an. Die Überlastung führte zu psychischen Problemen und Suizidgedanken. Dazu kamen Höllendrohungen – und ein beängstigendes Gottesbild, unter dem sie sehr litt. Sie entschloss sich, auszusteigen. Doch Manipulationen, Lügen, Drohungen schienen das unmöglich zu machen. Als sie deutlich sagte, sie wolle gehen, wurde sie „beschuldigt, angeschrien, als egoistisch und geisteskrank beschimpft, sogar ausgelacht“.
Schließlich kam sie dem Ausstieg näher, als sie nach langer Wartezeit einen Termin in der Psychiatrischen Institutsambulanz Höchst bekam. Dorthin wurde sie von einem Mitglied begleitet, das ihr drohte, sie dürfe den Ärzten im Gespräch nichts erzählen. Zunächst tat sie es nicht, doch irgendwann schon. So erhielt sie Hilfe und der Bruch gelang schließlich.
Johannes Lorenz und Oliver Kochen warnen eindringlich: Es wird proaktiv und aggressiv geworben, auch um Mitglieder von katholischen und evangelischen Pfarreien sowie Freikirchen, etwa durch Einladungen zu Pastoralseminaren. Vorsicht ist geboten. Infos gibt’s online auf zentrum-oekumene.de.