Fortsetzung von Seite 4 Travestie-Künstler Gerhard Stein ist tot

Mühlheim – Die Sache nimmt Fahrt auf, Gerhard Stein, der immer offen mit seiner Homosexualität umgegangen ist, lädt professionelle Künstler ein und lässt sie im Markteck auftreten.

Als dann ein Darsteller kurzfristig absagt, wird „Gerda“ geboren. 1978 war das. Gerhard Stein zieht sich kurzerhand eine Perücke über, quetscht sich in zu kleine Frauenschuhe: „Singen kannste, reden kannste – dann kannste das auch.“ Ein „großes Maul“ für die Bühne hat er schon immer gehabt. Zum fünfjährigen Bestehen tritt der in der Nähe von Gießen geborene Jürgen Peusch mit einem kleinen Programm auf der Weltbühne auf. Da gerade die Stelle eines Kellners vakant ist, bleibt Peusch der „Skandal-Schwulen-Kneip“ erhalten.

Der Funke springt über, die beiden werden ein kongeniales Team. Und schon bald stehen Gerhard Stein und Jürgen Peusch vor der Wahl: Kneipe oder Show. Die Entscheidung fällt leicht. 1985 wird die Kneipe zum Theater umgebaut. Nicht ohne Widerstände: Am Anfang ist es ein Spießrutenlauf in der Kleinstadt. In den 1970er und 80er Jahren schmieren Schwulenfeinde Hakenkreuze ans Theater, die Stadt verlangt eine monatliche Gebühr wegen „geschlechtsbezogener Handlungen“ auf der Bühne. Oft gibt es auch Stress vor dem Lokal, Beleidigungen und Versuche von körperlichen Attacken. Das Duo bleibt standhaft, sie arbeiten hart und mit viel Disziplin und lassen sich nicht einschüchtern.

Und die Zeiten ändern sich, die Weltbühne verliert allmählich den Makel der Schmuddelbude, wird Kult. Auch als das Markteck abbrennt und die Weltbühne ohne Räume dasteht, stecken Gerhard Stein und Jürgen Peusch nicht die Köpfe in den Sand. Mithilfe der Stadtverordneten, die die Weltbühne kurzerhand ins Jugendzentrum einquartieren, können die Shows weitergehen.

2004 bekommt das Theater den städtischen Kulturpreis, ein Jahr später zieht es um in die Willy-Brandt-Halle. 2007 geben sich Gerhard Stein und Jürgen Peusch das Ja-Wort. Da gehen Prominente in der Weltbühne ein und aus. Einen weiteren Popularitätsschub bekommt die Weltbühne durch die im Fernsehen ausgestrahlten Rosa-Wölkchen-Sitzungen, die seit mehreren Jahren zu den Höhepunkten der hessischen Fastnacht zählen.

Abgehoben sind Gerhard Stein und Jürgen Peusch dadurch nicht, Bodenständigkeit ist ihr Erfolgsrezept, sie unterstützen viele Organisationen – wie die Lebenshilfe Hanau, die Aidshilfe Offenbach oder „Rettet Kinder – rettet Leben“. Attitüden von Tuntenarroganz liegen der Weltbühne gänzlich fern. Gesprochen wird Hessisch, und in den Theatersesseln sitzt das Banken-Vorstandsmitglied neben der Verkäuferin. Gerdas kleine Weltbühne sind keine vier Wände, sondern zwei außergewöhnliche Menschen, die das Theater mit Haut und Haar, mit Herz und Seele betreiben.

Eine diabetes-bedingte Beinamputation und ein Schlaganfall zwingen Gerda, mehr und mehr aus dem Rampenlicht zu treten und Jutta P. die Bühne alleine zu überlassen. Allgegenwärtig war und ist Gerhard Stein aber im Theater immer noch, unterhält vor und nach den Shows. Das wird fehlen, doch Gerhard Stein steht nun auf der kleinen Himmelsbühne – goodbye Gerda!