Travestie-Künstler Gerhard Stein ist im Alter von 72 Jahren gestorben Goodbye Gerda

Fast 50 Jahre auf der Weltbühne: Gerhard Stein alias Gerda Ballon bei einem seiner letzten Auftritte bei der Rosa-Wölkchen-Sitzung. archiv

Mühlheim – Die Stadt hat ihre wohl schillerndste Persönlichkeit verloren: Gerhard Stein hat am Samstagvergangener Woche die Augen für immer geschlossen. Der Mühlheimer war eine Ausnahmeerscheinung und weit über die Stadtgrenzen bekannt. Mit dem Travestie-Theater „Gerdas kleine Weltbühne“ hat er einen schrill-fröhlichen Kosmos geschaffen, der im Rhein-Main-Gebiet seinesgleichen sucht.

Fast ein halbes Jahrhundert war Gerhard Stein „Gerda“, die Weltbühne sein Zuhause. Bekannt war er schon immer für sein lockeres Mundwerk, er hat immer frei heraus gesagt, was er dachte. Niveauvoll unter der Gürtellinie – frivol ja, aber nicht vulgär.

Nun ist der geborene Entertainer im Alter von 72 Jahren verstummt. Die Anteilnahme in der Stadt ist groß, die Nachricht von seinem Tod verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Die Gedanken sind vor allem bei seinem Mann Jürgen Peusch alias „Jutta P.“, der sich in den vergangenen Jahren liebevoll um seinen gesundheitlich angeschlagenen Ehemann und auch die Weltbühne gekümmert hat.

Gerhard Stein wird 1950 ins Nachkriegsdeutschland geboren, wächst in der Offenbacher Marienstraße auf und lernt nach der Schule bei der Bäckerei Boll. Ende der 1960er Jahre führt er die Gaststätte „Schweinchen Dick“, ein „Hotspot“ in Bürgel. Auch in der Käsmühle kellnert Gerhard Stein. 1974 eröffnet er das Markteck an der Offenbacher Straße in Mühlheim. Dort in der kleinen Kneipe beginnt die Erfolgsgeschichte. Zum einjährigen Bestehen des Lokals möchte Gerhard Stein etwas Besonderes bieten. Inspiriert und begeistert von Travestie-Shows auf der Hamburger Reeperbahn bringt er die Idee mit in die Mühlenstadt. Gute Travestie bestand damals daraus, Geschichten witzig zu erzählen, es gab noch keine Stand-up-Comedians, da hat Travestie für amüsante Unterhaltung gesorgt, hat Gerhard Stein einmal gesagt

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Die Sache nimmt Fahrt auf, Gerhard Stein, der immer offen mit seiner Homosexualität umgegangen ist, lädt professionelle Künstler ein und lässt sie im Markteck auftreten. Als dann ein Darsteller kurzfristig absagt, wird „Gerda“ geboren. 1978 war das. Gerhard Stein zieht sich kurzerhand eine Perücke über, quetscht sich in zu kleine Frauenschuhe: „Singen kannste, reden kannste – dann kannste das auch.“ Ein „großes Maul“ für die Bühne hat er schon immer gehabt. Zum fünfjährigen Bestehen tritt der in der Nähe von Gießen geborene Jürgen Peusch mit einem kleinen Programm auf der Weltbühne auf. Da gerade die Stelle eines Kellners vakant ist, bleibt Peusch der „Skandal-Schwulen-Kneip“ erhalten.

Der Funke springt über, die beiden werden ein kongeniales Team. Und schon bald stehen Gerhard Stein und Jürgen Peusch vor der Wahl: Kneipe oder Show. Die Entscheidung fällt leicht. 1985 wird die Kneipe zum Theater umgebaut. Nicht ohne Widerstände: Am Anfang ist es ein Spießrutenlauf in der Kleinstadt. In den 1970er und 80er Jahren schmieren Schwulenfeinde Hakenkreuze ans Theater, die Stadt verlangt eine monatliche Gebühr wegen „geschlechtsbezogener Handlungen“ auf der Bühne. Oft gibt es auch Stress vor dem Lokal, Beleidigungen und Versuche von körperlichen Attacken. Das Duo bleibt standhaft, sie arbeiten hart und mit viel Disziplin und lassen sich nicht einschüchtern.

Und die Zeiten ändern sich, die Weltbühne verliert allmählich den Makel der Schmuddelbude, wird Kult. Auch als das Markteck abbrennt und die Weltbühne ohne Räume dasteht, stecken Gerhard Stein und Jürgen Peusch nicht die Köpfe in den Sand. Mithilfe der Stadtverordneten, die die Weltbühne kurzerhand ins Jugendzentrum einquartieren, können die Shows weitergehen.

2004 bekommt das Theater den städtischen Kulturpreis, ein Jahr später zieht es um in die Willy-Brandt-Halle. 2007 geben sich Gerhard Stein und Jürgen Peusch das Ja-Wort. Da gehen Prominente in der Weltbühne ein und aus. Einen weiteren Popularitätsschub bekommt die Weltbühne durch die im Fernsehen ausgestrahlten Rosa-Wölkchen-Sitzungen, die seit mehreren Jahren zu den Höhepunkten der hessischen Fastnacht zählen.

Abgehoben sind Gerhard Stein und Jürgen Peusch dadurch nicht, Bodenständigkeit ist ihr Erfolgsrezept, sie unterstützen viele Organisationen – wie die Lebenshilfe Hanau, die Aidshilfe Offenbach oder „Rettet Kinder – rettet Leben“. Attitüden von Tuntenarroganz liegen der Weltbühne gänzlich fern. Gesprochen wird Hessisch, und in den Theatersesseln sitzt das Banken-Vorstandsmitglied neben der Verkäuferin. Gerdas kleine Weltbühne sind keine vier Wände, sondern zwei außergewöhnliche Menschen, die das Theater mit Haut und Haar, mit Herz und Seele betreiben.

Eine diabetes-bedingte Beinamputation und ein Schlaganfall zwingen Gerda, mehr und mehr aus dem Rampenlicht zu treten und Jutta P. die Bühne alleine zu überlassen. Allgegenwärtig war und ist Gerhard Stein aber im Theater immer noch, unterhält vor und nach den Shows. Das wird fehlen, doch Gerhard Stein steht nun auf der kleinen Himmelsbühne – goodbye Gerda!

Von Ronny Paul Und Michael Prochnow