LESUNG ZUM 3. OKTOBER Marko Martin stellt sein Buch „Die verdrängte Zeit“ vor Pop-Künstler und Punks als Gefahr empfunden

Trotz der ernsten Materie seines Buches zeigte sich der in Berlin lebende Autor Marko Martin gut gelaunt bei der Lesung zum 3. Oktober in der Stadtbibliothek. Bild: Man

Neu-Isenburg – Die Lesungen zum Nationalfeiertag in der Stadtbibliothek Neu-Isenburg haben Tradition. Am Tag der Deutschen Einheit begrüßt die Leiterin Dr. Annette Wagner-Wilke den in Berlin lebenden Marko Martin. Der Autor liest aus seinem Buch „Die verdrängte Zeit. Vom Verschwinden und Entdecken der Kultur des Ostens“. Bevor es losgeht, erinnert sich Bürgermeister Gene Hagelstein, wie er Anfang der 1980er Jahre als 15-Jähriger in die DDR fuhr und es ihn überraschte, in Erfurt Punks zu entdecken. „Ich war froh, diesen Aspekt der DDR-Gesellschaft zu erleben.“

Marko Martin erzählt im Laufe der Lesung, weder bei den Jungen Pionieren, noch in der FDJ gewesen zu sein. In Folge seiner Wehrdienstverweigerung habe er der DDR im Mai 1989 den Rücken kehren können, als 19-Jähriger, ein halbes Jahr vor dem Mauerfall. Der gebürtige Sachse verließ ein Land. Im Umgang mit den Punks sei die Direktive der Staatssicherheit gewesen, „macht kaputt, was euch kaputt macht.“ Darauf hätte sich die Truppe von Minister Erich Mielke trefflich verstanden. An der Hochschule in Potsdam seien Diplom- und Doktorarbeiten entstanden, die Titel trugen wie „Erfahrungen bei der Realisierung von Maßnahmen der Zersetzung zur wirksamen Bekämpfung von Untergrundtätigkeit unter Einbeziehung von IM sowie staatlicher und gesellschaftlicher Kräfte.“

Der Schriftsteller liest über den Anfang der Neunziger. Die letzte DDR-Volkskammer hatte noch ein Gesetz zur Publikation von Stasi-Akten verabschiedet. Wer will, kann bis heute seine Akte lesen, falls vorhanden. So erfuhr mancher, was engste Freunde, Ehepartner und Verwandte in ihrer IM-Eigenschaft alles ausgeplaudert hatten. Vielen habe das Gesetz nicht geschmeckt: „Hetzjagd, McCarthy-Hysterie, Gesinnungsprüfung“, seien nur einige der Wendungen gewesen, die damals kursierten, um das Auftauchen der Vergangenheit zu diskreditieren, „nicht selten von jenen vorgebracht, die schon aus Eigeninteresse und eigener Stasi-Mitarbeit auf eine Zukunft ohne Erinnerung spekulierten.“

Der Autor nennt ein Beispiel, wie fragil die Machthaber im real existierenden Sozialismus das eigene System empfunden haben müssen, sonst hätte die Staatssicherheit ein paar Vertreter der westlichen Popularkultur nicht als Bedrohung empfunden. „Tusch auf Bowie“ nennt sich ein Kapitel, aus dem Martin liest. Die Rede ist vom „Pfingstwunder von Ostberlin“. David Bowie sang zum Pfingstfestival auf dem Feld vor dem Reichstag in der Nähe zu Brandenburger Tor und Mauer.

Die Veranstalter hatten auf Wunsch von Bowie und der Gruppe Genesis eine doppelte Formation an Lautsprechern platziert. Eine schallte nach Osten. Unter den Linden hätten sich „zuerst nur ein paar Dutzend, dann schon Hunderte, schließlich sogar Tausende“ versammelt. Das Konzert flankierten auf der Seite der DDR Volkspolizisten und Staatssicherheitsmänner, die die Seitenstraßen absperrten und „die ersten Jugendlichen aus der Menge herausziehen, zusammenschlagen und abführen.“ Martin schildert ein absurdes Szenarium. Die sozialistische Staatsmacht knüppelt auf jene ein, die das heiligste Lied der Arbeiterbewegung intonieren: „,Die Internationale erkämpft das Menschenrecht‘ klingt trotzig über der Straße Unter den Linden.“

Einer der Zuhörer fragt Martin nach Unterschieden zwischen Ost und West, was die Reaktionen des Publikums in seinen Lesungen betrifft. Der 53-Jährige nennt eine Gemeinsamkeit: Kritisiere er die DDR-Schriftstellerin Christa Wolf, die erklärt hatte, im interessanteren deutschen Staat zu leben, echauffierten sich deren Fans auf beiden Seiten ähnlich.
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