Sechstes Textland Literaturfest: „Utopie oder die Realität von morgen“ Sehnsucht, Sinn und Seele

Autorin Milena Michiko Flasar im Gespräch. Bild: Faure

Altstadt (jf) – Die Faust Kultur Stiftung hatte an zwei Tagen zum sechsten Textland Literaturfest in die Evangelische Akademie eingeladen. Das Fest stand in diesem Jahr unter der Überschrift „Utopie oder die Realität von morgen“ und bot sieben Panels in Frankfurt und einen Abend in Hofheim.

Unter dem Titel „Spiritualität der Zukunft“ sprachen zunächst der Philosoph und Feuilletonist Carsten Otte und der Schriftsteller Arnold Stadler miteinander. Stadler las aus seinem Roman „Irgendwo. Aber am Meer“, der mit einer Begegnung auf dem Frankfurter Hauptbahnhof anfängt. Der Protagonist, bei einer Lesung auf Schloss Sayn zu einem „alten weißen Mann“ geworden, stieß auf einen jungen Obdachlosen aus Gelnhausen. Der Dichter ist verärgert nach der Lesung, die zu einer Mischung aus Butterfahrt, Event und Tribunal geworden ist und an die römische Gepflogenheit von Daumen hoch oder runter erinnert. Er war nicht Greta Thunberg. Die Zuschauer waren über ihn und über sich enttäuscht. Einen „Talk“ sollte es noch geben nach der Lesung, zum Begriff „Heimat“. Aber das rettete nichts mehr.

„Mit dem Obdachlosen aus Gelnhausen kann der kundige Leser eine Spur zu Grimmelshausen aufnehmen, der in Gelnhausen geboren wurde. Trifft das zu?“, fragte Otte. „Ich liebe diese Frage. Ja, meine Texte sind Partituren. Auch das Buch hat etwas Barockes, dem Erzähler ist die Welt nicht egal. Ich sage auch ja zum Leben, es ist schön“, äußerte Stadler, der Theologie studiert hat. Otte sprach von „Vogelscheuchensätzen“ in Stadlers Werk, Hinweise für den Leser. „Ich möchte, dass der Leser gleich weiß, ob es ein Buch für ihn ist oder nicht“, sagte Stadler.

Auf den Titel angesprochen, erklärte der Autor: „Der Motor meines Schreibens ist eine gewaltige Sehnsucht. Ich habe das Meer 20 Jahre nicht gesehen, aber ich habe davon gewusst.“ Der Autor verriet zudem, dass auf dem Cover ein Blick von seinem Schreibtisch auf das Meer zu sehen ist.

Das zweite Gespräch bestritten Philosoph und Co-Kurator Leon Joskowitz und die Autorin Milena Michiko Flasar. In ihrem Buch „Oben Erde unten Himmel“ geht es um das japanische „Kodokushi“, das einsame Sterben. Der Leser begleitet die heimliche Hauptfigur Suzu, die in einer Leichenfundortreinigungsfirma arbeitet. Das Unternehmen beschäftigt sich mit den Toten, die allein sterben, und kümmert sich um die Hinterlassenschaften dieser Menschen. „Wenn im Süden ein sterbender Mensch ist, hingehen und sagen, er braucht keine Angst zu haben.“

Diese Zeilen aus einem Gedicht von Miyazawa Kenji stellt Flaar ihrem Buch voran. Realistisch wird der Leichenfundort beschrieben, die Wohnung des Toten, in dem noch ein Hauch von ihm oder seiner Seele schwebt. Außerdem wird ein unglaublicher Respekt der Mitarbeiter vor dem toten Herrn Ono und seiner Umgebung deutlich. Herr Ono hat vor seinem Ableben alles getan, um die Nachbarn durch mögliche Gerüche nicht zu belästigen. Seine Wohnung ist jedoch nicht nur Sterbeort, er hat dort auch gelebt. Mit dem Aufräumen wird das deutlich, wird sichtbar, dass Himmel und Erde, Tod und Leben zusammengehören. Das Sterben und der Tod sind wichtige Themen, die nicht ausreichend von unserer Gesellschaft behandelt werden – darin waren sich Joskowitz, Flaar und das Publikum einig.