Lesung zu „Der Tunnelbauer“ mit Fluchthelfer Joachim Neumann Weg in die Freiheit gegraben

Die Geschichte von Zeitzeuge und Fluchthelfer Joachim Neumann diente als Grundlage zum Jugendroman „Der Tunnelbauer“. Bild: Schmedemann

Dreieich – Als ein Freund wegen einer Nichtigkeit völlig willkürlich verhaftet wird, fasst der Berliner Joachim Neumann im Sommer 1961 den Entschluss, aus der DDR zu flüchten und das System hinter sich zu lassen. „Richtig schlimm wurde es, als die Grenzen dichtgemacht worden sind und die Mauer dann stand“, sagt der heute 84-Jährige. Er sitzt vor zwei zehnten Klassen der Ricarda-Huch-Schule in der Sprendlinger Stadtbücherei. Anlass ist die Lesung zum neuen Roman „Der Tunnelbauer“ von Maja Nielsen, die schon öfter der Einladung der Bücherei gefolgt ist.

Dass sie diesmal mit Neumann sogar einen Zeitzeugen an der Seite hat, ist sowohl für die Autorin als auch für die Jugendlichen etwas Besonderes. Für das Buch hat sich Nielsen mit Neumann zusammengesetzt, um von drei seiner sechs Tunnel zu berichten, die der Berliner zusammen mit weiteren Fluchthelfern unter der innerstädtischen Grenze vom Westen aus in den Osten gegraben hat. 300 Menschen hat der 84-Jährige damit zur Flucht verholfen. 300 Schicksale, die in der DDR anders verlaufen wären. Sein eigenes nimmt Neumann zwei Monate nach dem Mauerbau in die Hand. Mit der Passkopie eines Schweizers, der Neumann zum Verwechseln ähnlich sieht, nimmt er die S-Bahn Richtung Westen. „Reisende aus Ländern wie Belgien und der Schweiz wurden nicht so genau kontrolliert wie Westdeutsche“, ergänzt Nielsen, während sie das Kapitel aus ihrem Buch vorliest. Erinnerungsstücke an das Leben, das er mit dieser Flucht hinter sich lässt, hat er nicht; Fotos seiner Liebsten hätten ihn verraten. Stattdessen klimperte Schweizer Münzgeld, ein Kinoticket aus Zürich findet ein gesprächiger Grenzer in seiner Tasche – und kauft dem Flüchtling seine Geschichte ab.

In Gedanken hat er seine Freundin Chris stets im Sinn. Der Wunsch, sie in den Westen zu holen, treibt Joachim Neumann an, zum Tunnelbauer und Fluchthelfer zu werden. Während Neumann sich in einer Tiefe von zwölf Metern durch den Boden buddelt, sitzt Chris in Untersuchungshaft. „Die haben sie für einen Fluchtversuch inhaftiert, obwohl sie es bis dahin ja noch gar nicht versucht hatte“, berichtet der Tunnelbauer. Chris wird ein halbes Jahr früher entlassen, als gerade ein weiterer Fluchttunnel fertig ist. Um ihr diese Nachricht zu überbringen, schickt Neumann ihr einen Kurier. Als Erkennungszeichen gibt er diesem einen Teddy, den der Flüchtling von seiner Freundin geschenkt bekommen hat. Als der Kurier den Teddy zeigt, zögert die junge Frau keine Sekunde.

Bis Oktober 1964 gräbt er sich unter der Grenze hindurch, um Menschen zu helfen. Bei seiner Flucht ist Neumann 22 Jahre alt, Nielsen hat ihn in ihrem Jugendbuch vier Jahre jünger gemacht, um ihn näher an die Zielgruppe zu bringen. „Ich will mit dem Buch erreichen, dass die Jugendlichen ein Geschichtsbewusstsein entwickeln“, beschreibt die Autorin. Dennoch sei das Buch für jede Altersgruppe lesenswert. Für Neumann war es keine Frage, Maja Nielsen bei der Umsetzung des Romans zu unterstützen. So arbeitet der Zeitzeuge etwa bis heute bei der Gedenkstätte Berliner Mauer in der Bundeshauptstadt. „Meine Geschichte zeigt nur einen kleinen Teil davon, was die DDR alles war“, führt er aus. Unterdrückung, permanente Überwachung, Willkür. „Ich will zeigen, dass unsere Freiheit in der Demokratie nicht selbstverständlich ist.“

Anschließend stellen die Schüler Fragen, etwa nach der Finanzierung, die mit Hilfe aus dem Westen und Medienhäusern machbar war. Zu Geflüchteten habe er bis heute Kontakt. „Haben Sie denn Chris nach der Flucht noch einmal gesehen?“, fragt eine Schülerin. „Ich war 40 Jahre lang mit ihr verheiratet“, antwortet der Witwer.
 liz