Maja Nielsen stellt bei der Lese-Insel im Bibliothekszentrum „Der Tunnelbauer“ vor Durch die Erde in die Freiheit

Maja Nielsen war mit ihrem neuen Roman „Der Tunnelbauer“ zu Gast im Bibliothekszentrum. Bild: Kai Maeritz/p

Bergen-Enkheim (sh) – Der packende Stoff, den Autorin Maja Nielsen in ihrem neuesten Roman „Der Tunnelbauer“ verarbeitet hatte, ließ bei der Lesung im Bibliothekszentrum Bergen-Enkheim niemanden kalt. Es ging um Tunnelfluchten aus der damaligen DDR. Nielsen hatte das große Glück, den Zeitzeugen Joachim Neumann für eine bewegende Zusammenarbeit zu gewinnen. Neumann wirkte an insgesamt sechs Fluchttunneln an der Bernauer Straße mit, über die zahlreiche Menschen von Ost nach West geflohen sind. Aus seinen Schilderungen sowie Besichtigungen vor Ort bis hin zu Einsichten in Stasi-Akten verfasste Nielsen einen unter die Haut gehenden Roman, der zeigt, was manche Menschen bereit sind, auf sich zu nehmen, um andere aus einem ungerechten System zu befreien. Geführt wird „Der Tunnelbauer“ aufgrund seiner sprachlichen Unkompliziertheit als Jugendbuch, der Roman ist aber auch für Erwachsene absolut empfehlenswert.

„Die deutsch-deutsche Geschichte war in der Schule eher ein Randthema“, sagte Bibliotheksleiterin Vera Dopichaj zur Begrüßung der Lesung, die der Förderverein Lese-Insel organisiert und finanziert hatte. So scheint Nielsens dritter Jugendroman genau zur richtigen Zeit zu kommen. Bevor es Kostproben aus ihrem Buch gab, schilderte die charismatische Schriftstellerin und Schauspielerin, was sie zu dem Roman inspiriert hatte: Als sie ihrer argentinischen Schwiegertochter Berlin zeigte, unternahmen sie eine Führung in die „Berliner Unterwelten“, die die unterirdischen Fluchtwege beinhaltete. Dabei sei auch der Name Joachim Neumann gefallen, der damals seine Freundin Chris durch den Tunnel in den Westen bringen wollte. Sogleich war das erzählerische Gespür der gebürtigen Hamburgerin geweckt. Anschaulich berichtete Nielsen von ihrem ersten Treffen mit dem heute 85 Jahre alten „Tunnelbauer“, ihrem Protagonisten: Sie sei mit dem Zug nach Berlin gefahren – kurz hinter Halle begann die Lokomotive zu brennen. Sie teilte sich mit einer Gruppe Partymädels das einzige Taxi, das in 50 Kilometer Umkreis zur Verfügung stand, um zu Neumann zu kommen.

Der Roman „Der Tunnelbauer“ nimmt den Leser mit in das Jahr 1961, als die Ostberliner Studenten durch die Mauer plötzlich von ihrem bisherigen Leben abgeschnitten werden und ein anderer Wind weht. Als ein Schulfreund wegen einer Nichtigkeit zu acht Jahren Haft verurteilt wird, flüchtet Neumann mithilfe eines Schweizer Passes in den Westen – er lässt seine Familie zurück und das Mädchen, in das er sich gerade verliebt hatte. Eindringlich schildert der Roman Neumanns kalte Angst beim Grenzübergang mit einem Pass, der nicht seiner ist. Im Westen engagiert sich Achim in der Fluchthilfe, doch die Spitzel sind überall und unterwandern Passstellen, sodass diese Methode nicht mehr sicher genug ist. Die Fluchthelfer beschließen, durch Keller in Gebäuden an der Bernauer Straße Tunnel auf die im Westen liegende andere Straßenseite zu graben. Die Gruppe erduldet klaustrophobische Enge, einen Wassereinbruch im Tunnelgang durch eine defekte Leitung und wochenlanges Ausharren bei Dosenfutter im Keller, um an der Oberfläche nicht aufzufallen. Das mühsame Graben mit Spaten durch harte Lehmschichten gestaltet sich mühsam und die Angst vor Verrat ist ständiger Begleiter. Neumanns stärkster Antrieb ist, endlich mit seiner Liebe vereint zu sein. Derweil durchlebt Chris im Osten ebenfalls ein Martyrium, als sie in Untersuchungshaft kommt und eine zweijährige Haftstrafe absitzen muss. Das menschenverachtende Vorgehen im Gefängnis macht das Bergen-Enkheimer Publikum beklommen. Trotzdem ist „Der Tunnelbauer“ kein Betroffenheitsbuch, stellt Nielsen klar: „Ich wollte diese Zeit für alle spürbar machen, die sie nicht selbst erlebt haben. Ich will mit dem Buch Ost und West zusammenbringen, eine Einheit schaffen. Und Einheit bedeutet, sich gegenseitig zuzuhören.“

Die Lesung im Bibliothekszentrum Bergen-Enkheim wurde begleitet von auf Leinwand projizierten Fotos, die unter anderem Bilder von den Fluchttunneln zeigten. Zudem gab es auch Kostproben aus der Hörbuch-Ausgabe des Romans. Nun geht es für Maja Nielsen auf Lesereise, Joachim Neumann wird sie dabei begleiten.

Auf der Internetseite leseinsel-bergenenkheim.com gibt es einen Link zu einem Interview mit Maja Nielsen sowie einen Link zu einem Zeitzeugen-Interview mit Joachim Neumann von der Stiftung Berliner Mauer, zur Verfügung gestellt vom Gerstenberg Verlag.