Kulturelle Teilhabe in der Einwanderungsgesellschaft Podiumsgespräch in der Nationalbibliothek

Shermin Langhoff, Michel Friedman, Boris Schumatzky und Micha Brumlik. Foto: Faure

Nordend (jf) – Was ist ein kulturelles Gedächtnis? Hat das überhaupt jeder? Gibt es Gemeinsamkeiten? Zu diesen Fragen unterhielten sich in einer Veranstaltung des Deutschen Exilarchivs 1933-1945 in der Deutschen Nationalbibliothek Micha Brumlik, emeritierter Professor am Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaften der Goethe-Universität und von 2000 bis 2005 Direktor des Fritz Bauer Instituts; Shermin Langhoff, seit 2013 Intendantin des Maxim Gorki Theaters Berlin, sowie Boris Schumatsky, Schriftsteller. Michel Friedman, Professor an der Frankfurt University of Applied Sciences, moderierte.

Sylvia Asmus, Leiterin des Exilarchivs, begrüßte die vielen Gäste – leider waren wenig Jugendliche darunter. Dieser Abend schlage eine Brücke von der Zeit des Exils in der NS-Zeit zur Gegenwart. „Gehören wir dazu? Und wozu gehören wir?“, fragte Friedman. Langhoff, die mit neun Jahren aus der Türkei nach Deutschland kam, antwortete als Erste: „Ich bin angekommen, beherrsche die deutsche Sprache – also gehöre ich dazu. Meine Vergangenheit liegt nicht nur in Deutschland, sondern auch in Armenien. Felix Mendelsohn-Bartholdy wollte 1832 im Theater, das ich heute leite, Singmeister werden, wurde aber mehrheitlich abgelehnt. Er, ein Deutscher, gehörte also nicht dazu.“

„Wer einen Einbürgerungsantrag stellt, gehört dazu.“

„Na klar gehöre ich dazu, was denn sonst“, sagte Brumlik, „ich bin ein deutscher Staatsbürger.“ „Aber es gibt solche und solche Deutsche“, warf Schumatzky ein. Friedman spann den Gedanken weiter: „Wenn Menschen rufen: ‚Wir sind das Volk’ – gehören wir dann dazu?“ „Theodor Heuss und seine Mitstreiter haben im Mai 1949 eine Verfassung verabschiedet. Das ist die Richtschnur“, stellte Langhoff klar. „Aber wir haben es in 30 Jahren Einwanderung nicht geschafft, Teilhabe zu entwickeln – weder juristisch, politisch, noch kulturell“, fügte die Theaterchefin hinzu.

Für Brumlik war die Sache einfach: „Wer einen Einbürgerungsantrag stellt, gehört dazu.“ „Und was ist mit Pegida?“, wandte Friedman ein. „Einen Bodensatz von rund 20 Prozent gibt es weltweit“, hielt Brumlik dagegen, „das ist ein echtes Problem. Aber ich fühle mich in meiner Zugehörigkeit nicht bedroht – diese 20 Prozent gehören nicht dazu.“ Schumatzky, der seit Anfang der 1990er Jahre in Deutschland lebt, bemerkte: „Ich habe die letzten zehn Jahre in Bayern verbracht. Auf dem Land gehörte ich nicht dazu. Aber das gab es früher auch schon.“

„In meiner Familie habe ich Opfer und Täter, aber eine Diskussion gab es nie."

Nicht nur ideologischer Pessimismus, sondern Rassismus greife in ganz Europa um sich, stellte Langhoff fest. Es sei wichtig, nicht nur Kultur, sondern ökonomische Hintergründe zu beleuchten. Aber das ist ein anderes Thema. „Ist in Deutschland das kulturelle Gedächtnis mit Auschwitz verankert?“, wollte Friedman wissen. „Nicht so, wie ich mir das wünschen würde“, antwortete Brumlik, „aber in keinem anderen Land werden die Verbrechen der Vergangenheit so verurteilt, wie in Deutschland.“ Dem stimmte Schumatzky zu: „In meiner Familie habe ich Opfer und Täter, aber eine Diskussion gab es nie. Deutschland ist einmalig bei der Aufarbeitung der Verbrechen, aber damit noch längst nicht am Ende. Die Gedanken daran könnten verschwinden. Oder völlig andere Formen annehmen.“

„Ich bin in Deutschland in eine kritische Haltung hineingewachsen. Aber Adorno verstaubt längst in den Regalen. Und mit den Söders dieser Republik haben wir ein anderes Niveau erreicht“, bedauerte Langhoff. Für Brumlik stelle sich eine ganz andere Frage: „Was wird in die Archive des Erinnerns aufgenommen? Was wird aus dem Vorschlag eines Museums des Exils von Herta Müller?“ Im weiteren Gespräch wurde der Begriff „Nation“, der ein Konstrukt beschreibt, hinterfragt. Genauso wie dieser Begriff stehen auch „Europa“ oder „die globale Welt“ als Beschreibungen von bestimmten Kollektiven im Raum.

Einig waren sich die Debattanten darin, dass der Meinung, „das Volk“ werde von „Eliten“ unterdrückt, etwas entgegen gesetzt werden muss. „Verschiedene Blicke auf ein und dieselbe Sache müssen ausgehalten werden – das ist die geringste intellektuelle Anforderung“, ergänzte Langhoff. „Und es ist wichtig, Orientierungshilfen in einer komplexen Welt zu schaffen.“ Das dürfe man nicht jenen überlassen, die simple Antworten auf komplizierte Zusammenhänge bieten.