Claudia Roth und Michel Friedman im Gespräch „Wie erreichen wir die Jugend?“

Claudia Roth im Gespräch mit Michel Friedman. Bild: Faure

Nordend-West (jf) – Die Menschen im Saal der Deutschen Nationalbibliothek sind vergangene Woche zur zweiten Veranstaltung zum Thema „Erinnern“ zusammen gekommen: An diesem Abend fragte der Publizist, Talkmaster und Autor Michel Friedman die Kulturstaatsministerin Claudia Roth: „Warum erinnern?“

Sylvia Asmus, Leiterin des Deutschen Exilarchivs 1933 bis 1945, hatte ein kleines Stück Pappe mitgebracht. Es ist die Rückfahrkarte von Köln nach Aachen vom 23. April 1933 von Walter Zadek. Der war in Berlin verhaftet worden, floh nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis in die Niederlande, später nach Palästina. Die Fahrkarte ist eins von rund 250 Objekten des Exilarchivs in der Nationalbibliothek.

„Es tut gut, auch mal aus Berlin weg zu sein“, bemerkte Claudia Roth, bevor sie über das kleine Stück Pappe sprach.

„Die Fahrkarte erinnert mich an den Bahnhof gleich gegenüber meines Büros. Dort sah ich vor mehr als anderthalb Jahren die ersten Frauen und Kinder aus der Ukraine ankommen mit Rucksäcken und Koffern. Die Koffer schlagen die Brücke zu den ersten Gesprächen mit Jüdinnen und Juden nach dem 7. Oktober. Die jüdischen Menschen packen ihre Koffer, wissen allerdings nicht, wo sie hinsollen.“ Antisemitismus gibt es nicht erst seit dem Überfall der Hamas. Aber seitdem eskaliert er. „Während in der NS-Zeit Berlin ein Ort der Flucht war, ist die Stadt heute ein Ort des Exils. Das ist keineswegs romantisierend gemeint“, unterstrich die Kulturstaatsministerin.

„Gibt es eine Erinnerungskultur in Bezug auf den Nationalsozialismus?“, fragte Michel Friedman. „Ja“, äußert Roth, „aber wir brauchen eine Erinnerungskultur, die sich mit der sich wandelnden Gesellschaft, einer Einwanderungsgesellschaft, auseinandersetzt.“ Friedman entgegnete: „Oft herrschte Schweigen. Die Kriegsgeneration wollte nicht über das Vergangene sprechen, doch die Kinder wollten wissen. So kam man nicht zusammen.“

Roth gab Friedman recht: „Es hat lange gedauert. Erst 1985 nannte Richard von Weizsäcker die Beendigung des Krieges eine Befreiung. Inzwischen bezeichnet Alice Weidel das Ende der NS-Zeit als deutsche Niederlage. Das ist grauenhaft.“ Es müsse mehr darüber gesprochen werden, was Demokratie ist – gerade in der Schule. „Erst in den 1990er-Jahren hat man sich an die Zeitzeugen gewandt. Die Opfer wurden gefragt, nicht die Täter, obwohl deren Aussagen ebenfalls wichtig wären. Wir müssen über die Kultur einen Zugang zur Erinnerung finden, nicht aus Erinnerung eine Kultur machen“, bemerkte Friedman. „Wir suchen nach neuen Formen des Umgangs. Und es gibt viele Gruppen, die unterdrückt und verfolgt wurden.“

„Gibt es denn einen gesellschaftlichen Konsens über Nichtdiskriminierung?“, fragte Friedman nach. „Das gehört zur Demokratie. Aber die ist nicht immun und wird nicht von allen verteidigt“, antwortete Roth.

Der Historiker Michael Wolffsohn stellte bereits 2019 fest, dass 40 Prozent der Jugendlichen nicht wissen, was in Auschwitz passierte. „Das ist doch erschreckend!“, wertete Friedman. Roth räumte auch angesichts der jüngsten Pisa-Studie eine „unglaubliche Niederlage unseres Bildungssystems“ ein. „Wir brauchen endlich ein Demokratie-Förder-Gesetz und können uns nicht leisten, bei Bildung und Vermittlung zu sparen.“ Der erstarkende Rechtsextremismus werde seit Jahren unterschätzt. Breite demokratische Bündnisse müssen sich dem entgegenstellen.

Der ausgedehnten Diskussion schloss sich noch eine kleine Fragerunde an. Zur Documenta fifteen bemerkte Claudia Roth, dass ihr Vertrauen in die Verantwortlichen zu groß war. Ihre Schlussfolgerung: „Geld ohne Mitsprache gibt es nicht mehr.“