Ein Blick in die längst geschlossene Gaststätte „Zur Wally“ Zapfhähne sind noch so blank wie früher

Anita und Giuseppe Renda waren die letzten Wirte der Gaststätte zur „Wally“. Sie bestand 115 Jahre. Bild: pelka

Dudenhofen – Die Zapfhähne aus Chrom sind so blank wie eh und je, der Tresen so aufgeräumt wie in den besten Tagen, und in einem ehemaligen Kühlfach stehen Himbeergeist, Obstler und andere Brände, als warteten sie nur darauf, geleert zu werden: Auch Jahre nach Schließung der Gaststätte „Zur Wally“ sieht es im Schankraum noch fast so aus, als könne der Betrieb relativ schnell wieder aufgenommen werden. Zwar fehlen ein paar Tische, eine gemütliche Eckbank und manche Barhocker. Aber sonst erinnert Vieles noch an früher, als die Gäste an der Dr.-Weinholz-Straße 27 sich Tag für Tag die Klinke in die Hand gaben.

Die Gastwirte Anita und Giuseppe Renda lassen aus nostalgischen Gründen – aber auch, weil sich manches nicht verkaufen ließ – in der ehemaligen Bierkneipe etliches beim Alten. Zum Beispiel den Tresen, die große Tafel für viele Gäste, die hölzerne Wandverkleidung, die Fliesen an der Wand hinter dem gut 60 Jahre alten Ofen aus Gusseisen, die Regale voller Gläser, die Werbung für Jägermeister und die Hausmarke Glaabsbräu und die Bembel auf der Galerie überm Tresen: alles noch im Originalzustand erhalten.

Unberührt bleiben auch Fotos der Vorfahren an den Wänden neben gerahmten Gratulationsurkunden und einem Wandgemälde hängen – einem Geschenk an die fleißige Familie. Es zeigt die Wirtschaft nach dem zweiten Umbau in den 70er Jahren.

Damals brummt der Laden. Geöffnet ist jeden Tag durchgehend von 10 bis 1.30 Uhr. Ein 0,2er Bier kostet 70 Pfennige, ein Doornkaat zehn Pfennige mehr. Schon um 10 Uhr kommen die ersten Gäste. „Das waren meistens Handelsvertreter. Die haben gewürfelt. Das war ein gutes Geschäft“, erinnert sich Anita Renda, geborene Funk.

Ihr Mann Giuseppe, der im März 1966 als 17-Jähriger Gastarbeiter von Sizilien nach Deutschland übersiedelt, hilft abends und nachts – zusätzlich zum eigentlichen Maurer- und Kranfahrer-Job – noch an der Theke. „Am nächsten Morgen ging es um 6 Uhr weiter. Aber von nix kommt nix“, sagt der heute 75-Jährige. Für die Kinder Elena und Jens ist der Gastraum auch ein Stück zuhause. „Hier haben wir Hausaufgaben gemacht und gegessen“, plaudert Elena Renda.

An der Theke gibt es – außer Getränken, Zigarren, Zigaretten, Erdnüssen und Mars – als Imbiss zwar höchstens mal eine Scheibe Brot mit Dosenwurst, Soleier oder heiße Würstchen, aber die Gäste lieben ihre enge und heimelige Bierschenke mit den 25 Sitzplätzen.

Zu den Stammkunden gehören die TSV-Fußballer (später auch die Damenmannschaft), der Taubenverein, der Jahrgang 1947/48, Männerchor, Volkschor, Kirchenchor, der Musikverein und Gastarbeiter aus Spanien. „Die haben immer Domino gespielt.“ Andere dreschen stundenlang einen Skat oder würfeln. Und bestellen ordentlich. Der Familie hilft das, die Kosten für den Umbau abzustottern. Strenge Auflagen der Gewerbeaufsicht machen ihn zwingend.

Legendär sind die jährlichen Straßenfeste und die vielen Runden zur Kerb. „Da war die Hölle los. Da war hier eine Luft drin...“, ist Anita Renda gut in Erinnerung. Sorgsam bewahrt sie die vielen Relikte aus vergangenen Jahren auf. Die gerahmte Kopie eines Familienfotos aus den 1930er Jahren zeigt ihren Opa Johann Philipp Funk II. und ihren Vater Ludwig. Sie stehen vor dem Gasthaus an einem Glaabsbräu-Lkw und nehmen eine Bierlieferung in Empfang. Der Transporter hat noch Vollgummireifen.

Opa Johann eröffnet das Bierlokal 1904 direkt neben seinem Lebensmittelladen im eigenen Wohnhaus. Zu dieser Zeit lautet die Adresse noch Ludwigstraße 27. Erst mit der Gebietsreform 1978 wird daraus die Dr.-Weinholzstraße 27. Die Schankwirtschaft trägt 1904 den Namen „Zur schönen Aussicht.“ Damals stimmt das sogar, denn der Blick aus den Fenstern ist noch fast unverbaut. Er reicht an klaren Tagen bis nach Dietzenbach.

An der Fassade prangt ein großes Schild mit der Aufschrift „Samen und Spezerei“ – das ist der heute kaum mehr gebräuchliche Ausdruck für Lebensmittel- oder Gemischtwarenläden.

Anita Rendas Vater Ludwig Funk (im Volksmund „de Funke Lui“) übernimmt beide Geschäfte etwa 1948. Nach dessen Tod 1963 folgt ihm Anita Rendas Mutter, Wally Elfriede Funk nach. Da gibt es den Lebensmittelladen schon nicht mehr. 1973/74 baut sie kräftig um und stirbt viel zu früh und überraschend im November 1977 im Alter von nur 58 Jahren am Kerbsamstag. „Das war die traurigste Kerb, die Dudenhofen je erlebt hat“, ist Anita Renda noch in schmerzlicher Erinnerung.

Die Tochter des Hauses ist damals 25 Jahre jung und seit knapp zwei Jahren Ehefrau. Anita Renda kennt den Betrieb gut. Trotzdem wächst sie ab 1978 nur langsam in die neue Aufgabe als Chefin hinein, benennt die Gastwirtschaft in „Zur Wally“ um. „Zuerst wollte ich nicht einsteigen ins Geschäft. Der raue Ton war abschreckend für mich. Es war eine harte Zeit.“ Zur Bierhalle kommt eine Lottoannahmestelle hinzu. Es folgen Jahrzehnte entbehrungsreicher Arbeit. Zum Alltag gehören aber auch unvergessliche Momente, denn zu Stammgästen entwickelt sich ein geradezu herzliches Verhältnis. Irene Resch, kreativer Kopf des Männerchortheaters, malt als Geschenk das schöne Wandbild. Zum 60. von Anita Renda gibt es einen charmanten Rollentausch: Gäste bedienen ihre Gastgeberin. Und zur Silberhochzeit erfreut der Musikverein mit einem Ständchen.

Gesundheitliche Gründe leiten dann 2019 den Abschied ein – und das nach 115 Jahren! „Ich hätte das alleine nicht mehr geschafft.“ Das Ende wird ergreifend. Im Heer der Gratulanten textet der Männerchor sogar ein Lied auf die Wirtsleute.

Wie war sie denn nun, die lange Zeit hinterm Tresen? „Insgesamt waren es schöne Jahre“, zieht Anita Renda zufrieden Bilanz. Dann steht sie von der großen Tafel im verwaisten Gastraum auf und geht am Tresen vorbei ins Wohnzimmer. Das war früher der Lebensmittelladen.

Von Bernhard Pelka