Ober-Roden und Urberach integrierten nach Weltkrieg 2600 Flüchtlinge

Die Familie Hafenscher war nach dem Zweiten Weltkrieg aus Ungarn nach Deutschland geflüchtet. Die T&N-Baracke auf dem Werksgelände in Urberach war ihr erstes Zuhause. Das Bild: Archiv HGV Rödermark

Rödermark – Im April vorigen Jahres, wenige Wochen nach dem russischen Angriff auf die Ukraine, wurde das „Parkhotel“ zur vorläufigen Heimat für 319 Kriegsflüchtlinge. Weitere 165 Ukrainer sind privat untergebracht. Eine Zahl, die zusammen mit derzeit 350 Asylbewerbern und anerkannten Asylanten die wohlhabende 30 000-Einwohner-Stadt Rödermark vor immense Herausforderungen stellte und weiterhin stellen wird: Kita- und Schulplätze, Sprachkurse, Wohnungen, und, und, und...

Weit größer waren die Herausforderungen nach dem Zweiten Weltkrieg. Ober-Roden und Urberach waren Handwerker- und Bauerndörfer mit zusammen gut 7 000 Einwohnern. Hunderte von Männern waren auf den Schlachtfeldern gestorben oder wurden vermisst, das Leben normalisierte sich unter amerikanischer Besatzung zunächst einmal nur in winzigen Schritten. Und da brauchten ausgebombte Stadtbewohner, Flüchtlinge, Heimatvertriebene und Zwangsumgesiedelte ein neues Zuhause.

Der Heimat- und Geschichtsverein (HGV) Rödermark hatte sich 2016 erstmals in einer Ausstellung des Themas angenommen. Die Resonanz war sehr groß, leben doch auch heute noch Familien bis in die zweite oder gar dritte Generation in der Stadt. Vorstandsmitglied Anne Laqua nutzte die Zeit, um nun akribisch die Daten laut Anmelderegister zusammenzutragen. Unterstützt wurde sie einmal mehr von Johann Feith, Herbert Sulzmann und Wolf Müller. Listen über Listen, Namen, Herkunft, Geburtsort, Datum der Ankunft und Unterkunft und anderes mehr – wo manches bisher stellenweise noch im Allgemeinen blieb, liegen nun alle Fakten vor, Menschen erhalten ihre eigene Geschichte.

Rund 2 600 Männer, Frauen und Kinder kamen in den Jahren von 1946 bis 1960 nach Urberach und Ober-Roden. Sie stammen aus mehr als einem Dutzend europäischer Länder, in denen ihre Familien oft seit Jahrhunderten ansässig waren. Doch Hitlers Krieg hatte ihnen die Heimat genommen.

Eine große Gruppe bildeten die Tschonopler Donauschwaben, deren Stimme Johann Feith ist. An ihr Schicksal erinnert ein Denkmal in Ober-Roden. Anna Laqua arbeitete die Geschichte der Sudetendeutschen auf.

Viele blieben in Urberach und Ober-Roden, ließen sich unter anderem in eigens geschaffenen Siedlungen nieder, wo sie sich mit viel Eigenleistung eine neue Heimat schufen. Andere zogen nach einem kürzeren Aufenthalt weiter.

Die alten Ortschroniken reduzieren die Probleme der meist unfreiwilligen Neubürger auf die Wohnungsnot. 1947 bis 1949 bauten Heimatvertriebene in Urberach die sogenannte „Flüchtlingssiedlung“: Pfarrer Pfeifer stellte Kirchengrundstücke gegen eine Jahrespacht von 10 bis 15 Mark zur Verfügung. 1953 ließ Bürgermeister Adam Gensert im Rahmen des „Ostzonenprogramms“ drei Vierfamilienhäuser bauen. Die Ober-Röder 1 200-Jahr-Chronik vermerkt lapidar: „Im Jahr 1952 waren von 4 603 Wahlberechtigten 641 Vertriebene.“

Skepsis, Ablehnung, Hass oder Neid, die die „Flichtling“ auch damals erleben mussten, werden in den 1975 beziehungsweise 1986 erschienenen Büchern mit keinem Wort erwähnt. Dank beispielhafter Integration waren die meisten Zugezogenen seinerzeit schon Orwischer oder Oweräirer – wenn auch „Oigeplaggde“.

Ausstellung des HGV Wer, woher, wann und wohin: In seiner neuen Ausstellung wirft der HGV im Urberacher Töpfermuseum einen vertieften und ergänzenden Blick auf eine Zeit, die auch die weitere Geschichte der Stadt prägte. Fotos und Dokumente sowie Exponate berichten ebenfalls von jener Zeit am Ende des Zweiten Weltkrieges. Und wer manches lieber am Bildschirm betrachten will: Eindrücke gibt es auch parallel als weiteren Teil der Ausstellung aus dem „Historischen Gedächtnis“ des Vereins.

Zu besichtigen ist die Ausstellung im Töpfermuseum in der Bachgasse noch am Sonntag, 12. November, von 15 bis 18 Uhr.

Von Michael Löw