Zum Abschluss: Jammern mit Gelächter Dietesheimer Kerb geht tränenreich zu Ende

Zum 40. Mal fand der Kerbborsch sein Ende, die Trauerrede hielt „Pfarrer“ Wolfgang Kramwinkel. Foto: Mangold

Mühlheim (man) – Am Dienstag vergangener Woche endete die Diestesheimer Kerb, zum 40. Mal starb der Kerbborsch nach vier Tagen. Das zieht in allen Generationen ein kollektives Jammern und Wehklagen nach sich. Doch das war nicht der einzige Grund zur Klage: Früher turnte der Kerbborsch auf der Schiffschaukel, die ist Geschichte. Jetzt muss das Trampolin herhalten.

Stunden, bevor es abends um zehn zum eigentlichen Akt kommt, ist der Hof des Schwesternhauses an der Hauptstraße längst rappelvoll. Es gibt Tische, die sind rein männlich belegt, an anderen sitzen nur junge Frauen. Der Blick der Männer beim dezenten Posen und kraftvollem Prosten verrät die Überlegung im Tenor von „Was geht heute?“. Die zufällige Umschau der Frauen lässt sich als flüchtige Sondierung der Auswahl interpretieren. Festtage sind auch in Dietesheim Markttage.

Für den Kerbborsch heißt es heute: Ab in den Sarg. Noch hängt er am obersten Fenster des Schwesternhauses. In manchen Gemeinden ist die Kirchweih entweder längst Historie, oder sie besteht nur noch aus Relikten des Ritus. Der Ort wirkt heute, als schlage sich in der Republik zwar überall der demographische Wandel nieder, um Dietesheim macht er aber einen Bogen. „Wir sind stolz, dass die Jugend voll mitmacht“, sagt Wolfgang Kramwinkel, Kreishandwerksmeister und oberster Kerbborsch, der die Stimme etwas heben muss, um zum Sound von Keyboarder und Sänger Thorsten Schmitz alias Big-T und seinem Gitarristen Thomas Richter Gehör zu finden.

Extra mit dem Rad fuhr Charly Engert, Offenbachs berühmtester Büttenredner von Bürgel her, um sich zum einen eventuell auch ein zweites Bier zu gönnen, zum anderen intoniert Charly mit Big-T „Es geht mir gut“ aus vollem Herzen. Dazu tanzen die Stadtparlamentarier Gabi und Karlheinz Schmunck. Nicht irgendwie gehüpft, sondern geübt und gekonnt. Ebenfalls als Duo erscheinen Stadtverordnetenvorsteher Harald Winter (SPD) und Robert Müller (Grüne), deren persönliches Verhältnis von den jüngsten Dissonanzen zwischen ihren Parteien ungetrübt zu sein scheint, schon gar nicht mit Bierglas und Tuch in der Hand.

Es gibt Feste in Deutschland, die wollte man vor ausländischen Gästen lieber verstecken. Die Kerb in Diestesheim hat nicht weniger Charme als italienische oder spanische Dorffeiern, bei denen sich sämtliche Generationen versammeln. Heute gebärdet sich sogar das Klima mediterran. Die einzigen Wassertropfen, die umherschwirren, stammen vom Schwenk aus dem Zug der Kerbboschen mit der bis dato hoffentlich noch nie im Sinnes ihres eigentlichen Zwecks benutzten Klobürste. Die Kerbboschen zogen bei Fahnenschwenker Thomas Bihn ums Eck ihre Nachthemden an.

Udo Parakenings agiert als Hoffotograf. Der Vorsitzende des Pfarrgemeinderats von San Sebastian erwähnt die Geschichte der Kirchweih. Einst galt die der Gustav-Adolf-Kirche, als dort noch die Katholiken das Vater Unser beteten. „Bei uns geht es laut zu, bei den Evangelischen eher sittsam“, weist Parakening den Weg zur Friedensgemeinde. Von Puritanismus findet sich dennoch auch hier keine Spur. Statt Bier fließt Wein. Auch Willi Gerd Kost gönnt sich einen Tropfen, der Priester von San Sebastian, der heute nicht musizierend im Kerbezug mitmarschiert. Seinen Akkordeon-Part übernimmt die einzige Frau im Tross.

Der Trompeter Gerhard Pregitzer bläst die Melodie der englischen Nationalhymne an, der Soundtrack zu „Trinkfest und Arbeitsscheu“, der Dietesheimer Hymne. Mit Ralf Grombacher an der E-Gitarre samt mobilem Verstärker spielt dennoch ein Geistlicher auf. Die letzten Schritte auf der Untermainstraße versucht der Pastor, die Truppe auf „Smoke on the Water“ einzuzupfen. Die zieht jedoch erst den Schneewalzer, dann Chopins Trauermarsch vor.

Die Trauer über den zum 40. Mal dahingeschiedenen Kerbborsch ist das Herzstück der Geschichte. In Diestesheim mischt sich jedoch das Jammern mit dem Gelächter übers Ritual. „Nun heißt es Abschied nehmen“, verkündet „Pfarrer“ Kramwinkel das Entsetzliche. Der liturgische Singsang beklagt die „verschrottete Schiffschaukel“ gleich mit.

Weitere Artikelbilder