Thomas Melle bezieht seine kleine Heimat auf Zeit Bergen-Enkheim feiert seinen neuen Stadtschreiber

Ortsvorsteherin Renate Müller-Friese, der scheidende Stadtschreiber Sherko Fatah und der neue Stadtschreiber Thomas Melle (von links) kurz vor der Übergabe des symbolischen Schlüssels für das Stadtschreiberhaus. Foto: zko

Bergen-Enkheim (zko) – Literatur als Volksfest: Dieses Motto war Programm, als am Abend vor dem Berger Markt die symbolische Schlüsselübergabe für das Stadtschreiberhaus stattfand. Nach Sherko Fatah zieht nun Thomas Melle als 44. Stadtschreiber ins schmucke Häuschen an der Oberpforte ein.

Bergen-Enkheims Ortsvorsteherin Renate Müller-Friese (CDU) begrüßte die vielen Besucher im Festzelt auf dem Berger Marktplatz und speziell die politische und literarische Prominenz. Im Gedenken an den im Juli verstorbenen Peter Härtling (Stadtschreiber 1977/78) verlas die Ortsvorsteherin die aussagekräftige Abschiedsrede „Wer beim Abschied viel schwätzt“, die Härtling auf den Tag genau 39 Jahre zuvor im Festzelt gehalten hatte und in der er den Bergen-Enkheimern Respekt zollte.

Oberbürgermeister Peter Feldmann begrüßt den neuen Stadtschreiber

Frankfurts Oberbürgermeister Peter Feldmann (SPD) empfand es als besondere Ehre, den neuen Stadtschreiber zu begrüßen: „Wir würden uns freuen, wenn Sie auch in unserer Stadt wunderbare Literatur machen“, sagte er in Richtung Thomas Melle. Festredner Ahmad Mansour jedoch war der heimliche Star des Abends. Der Islamismus-Experte und Psychologe, 1976 in Kfar-Saba in Israel geboren, ist seit Jahren aktiv in der Präventionsarbeit mit Jugendlichen, unter anderem einer Beratungsstelle für Deradikalisierung. Sein Buch „Generation Allah. Warum wir im Kampf gegen den Extremismus umdenken müssen“ war am Stand von Buchhändlerin Anna Doepfner noch während seiner Ansprache komplett ausverkauft.

Festredner Ahman Mansour fordert zum kritischen Denken auf

In seiner Rede mit der Überschrift „Wir brauchen mehr Aufklärung“ brachte er auf den Punkt, dass ihm die Literatur gegen Radikalisierung geholfen habe: „Die Literatur war mein Begleiter und half mir, diese menschenfeindliche Ideologie hinter mir zu lassen“, erläuterte Mansour. „Wir brauchen Literatur, Texte, Dialogplattformen“, forderte der eloquente Autor, „das kritische Denken ist das, was wir brauchen, um den Kampf gegen den Terror zu gewinnen“.

Eine Frage müsse gestellt werden, die da laute: Wie konnte so ein Ungeheuer im Namen des Islam entstehen und die Lösung seien sicher keine Seminare, in denen sich alle lieb hätten, denn es seien Orte der Aufklärung nötig, um dem Terror Einhalt zu gebieten, so Mansour weiter. Eine Antwort auf die Vielfalt müsse sein, dass wir die Kinder unterschiedlicher Religionszugehörigkeit nicht trennten, sondern zusammenbrächten, denn das, was helfe, sei präventiv und das benötige Zeit.

Sherko Fatah übergibt sein Stadtschreiberamt schweren Herzens

Der scheidende Stadtschreiber Sherko Fatah sagte zum Abschied, dass er sein Stadtschreiberjahr zu bedeutenden Teilen in Bergen-Enkheim verlebt habe und konstatierte, dass ihm die literatur- und kulturinteressierte Gemeinde fehlen werde. Er habe im Stadtschreiberhaus „recht fleißig arbeiten können“, sagte Fatah. Für ihn hatte es Sinn, Zeit in Bergen-Enkheim zu verbringen, und wenn der Ort auch nicht direkt in Romane, Erzählungen oder Theaterstücke einfließen würde, so bliebe er doch in der Erinnerung von inzwischen so vielen Stadtschreibern eine kleine Heimat auf Zeit. Das Amt übergab Fatah dann, wie er sagte „schweren Herzens“ an seinen Nachfolger – mit den Wünschen, dass es ihm ebenso gut ergehe wie ihm.

Thomas Melle gewährt Einblicke in die Arbeit an seinem Buch „Die Welt im Rücken“

Thomas Melle erinnerte sich in seiner Antrittsrede nicht nur daran, dass er eigentlich schon tot gewesen sei, sondern auch, dass er schon einmal in Bergen-Enkheim zu Gast war: Nämlich bei einer Lesung von Jürgen Becker, der auf Einladung Katharina Hackers in der Nikolauskapelle las. Das war im Jahr 2006. Er beschrieb, wie er zu spät gekommen sei, dass er Lesungen eigentlich gar nicht mag und dass er die Veranstaltung gestört habe, als er mit seinem „hyperaktiven Nervenkostüm“ zu rascheln begann.

Melle gewährte dem Publikum profunde Einblicke in seine Arbeit an seinem Buch „Die Welt im Rücken“, das seine eigene manisch-depressive Erkrankung thematisiert. In seinen anspruchsvollen Ausführungen beschäftigte er sich mit der Frage, ob er dem Leser des Buchs als Person begegne oder nicht. Dabei analysierte er den Begriff „Authentizität“ und kam zu dem Schluss, dass es aufgrund der eigenen, subjektiven Wahrnehmung eigentlich unmöglich sei, die Wirklichkeit zu schildern, wie sie gewesen ist – außer, man begegne ihr als Funktion der Kunst.

Schließlich kehrte der neue Stadtschreiber wieder zu seinem Besuch der Nikolauskapelle vor elf Jahren zurück und erinnerte sich, dass er, der „Störenfried“, schon damals mitgenommen und eingemeindet wurde. Die Stadtschreiber-Zeit in Bergen-Enkheim möchte Melle nutzen, um sich neuen Stoffen zuzuwenden, denn zu seinem Leben sei alles gesagt worden. Er sei froh, mit dem Stadtschreiberpreis finanziellen und vielleicht sogar tatsächlichen Freiraum für dieses Vorhaben zu erhalten.