David Wagner und Jochen Schmidt lesen aus „Drüben und Drüben. Zwei deutsche Kindheiten“ Die Geschichte von zwei Jungen in Ost und West

Jochen Schmidt (links) und David Wagner lesen von ihren unterschiedlichen Erlebniswelten in Ost und West vor. Foto: Mangold

Neu-Isenburg (man) – Im Januar 1989 erklärte Erich Honecker, wenn nötig, dann stünde die Berliner Mauer noch „die nächsten fünfzig oder hundert Jahre“. Das regte niemanden sonderlich auf. Die meisten Deutschen hielten das für keine steile These und dachten vielmehr, dass der DDR-Staatschef am Ende recht behalten dürfte. „Drüben und Drüben. Zwei deutsche Kindheiten“ lautet der gemeinsame Buchtitel von David Wagner und Jochen Schmidt. Daraus lasen die beiden Autoren am Sonntag vor.

Der Verein für Heimatpflege und Kultur (GHK) hatte gemeinsam mit der Stadtbibliothek zum Neujahrsempfang an die Frankfurter Straße eingeladen.

Bürgermeister Herbert Hunkel, im ehrenamtlichen Nebenjob auch Vorsitzender des GHK, spricht von „den zwei Deutschlands und den zwei Jungs“, die der Zufall 1970 und 1971 zwar in einer Nation, doch in zwei kulturellen Hemisphären zur Welt kommen ließ: In David Wagners Personalausweis steht Andernach notiert, im Dokument des vier Monate älteren Jochen Schmidt müsste eigentlich noch Ost- vor Berlin stehen, die einstige Hauptstadt der DDR.

Auf je knapp hundert Seiten beschreiben die beiden unter den jeweils selben Kapitelüberschriften ihren Kindheits- und Jugendalltag in Ost und West.

Eigentlich gab es jenseits der Sprache keine Gemeinsamkeiten zwischen der DDR und der BRD. „In die DDR fuhren wir nie“, schreibt Wagner.

Von dem sozialistischen Staat wussten die Jugendlichen im Westen selten mehr, als dass es Honecker, eine Grenze mit Selbstschussanlagen und in den Supermärkten wenig zu kaufen gab. Letzteres galt schon als Detailkenntnis. Im Osten wussten sie vom Westen mindestens so viel, wie die Westler von sich selbst. Wenn es die geographische Lage erlaubte, begingen die meisten DDR-Bürger täglich Republikflucht übers Fernsehprogramm, erst recht im Berliner Plattenbau, von dem Jochen Schmidt im Kapitel „Kinderzimmer“ erzählt.

„Morgens musste erst mein Bett hochgeklappt werden, bevor man im engen Kinderzimmer zum Fenster durchkam und die Vorhänge aufziehen konnte“, beginnt der DDR-Berliner seinen Erlebnisbericht. Schnell ist von den typischen Malaisen der planwirtschaftlichen Produktionsergebnisse die Rede, „die Nägel, mit denen die Gardinenstange an der Presspappe befestigt waren, fielen heraus“. Ein Ende hing.

„Bei uns war immer etwas kaputt“, spricht der Autor letztlich für die ganze Republik, „wir waren an die Reparaturlösungen meines Vaters gewöhnt“. Der wusste sich zu helfen und hatte im Wartburg die defekte Lenkradschaltung durch eine Kugelschreiberhülse ersetzt.

Undenkbar in den Verhältnissen einer westlichen Mittelschichtfamilie, die David Wagner im Kapitel „Im Auto“ beschreibt. Den PKW benennt der seit 1991 in Berlin lebende Schriftsteller in der voll besetzten Stadtbibliothek wohl nicht zu unrecht „als Fetisch unserer Kultur, bis heute“.

Im Osten galt schon der Wartburg als nobel. Die Mehrheit musste sich mit einem Trabant begnügen, dessen blechern knatternder Zweitaktmotor einen der typischen DDR-Gerüche absonderte. David fuhr hingegen auf der Rückbank von Papas Audi Richtung Schweizer Grenze, als es nur einem Porsche Carrera gelang, zu überholen. „’Und den’, sagte mein Vater, ‘hätte ich auch wieder erwischt, wäre er nicht abgefahren’“, beschreibt der aktuelle Gewinner des Bayerischen Buchpreises, wie die Tachonadel bis zu 240 Stundenkilometer anzeigte. „Deutsche Autos waren die besten“, heißt es weiter. Dennoch konnten einem die Besonderheiten ausländischer Boliden beim Kartenspiel den Sieg bescheren, „beim Autoquartett gewannen meist die großen amerikanischen Straßenkreuzer, die Riesenschlitten mit ihren zwölf Zylindern“.

Nach Besuchen in der DDR zählten Bundesbürger einen ähnlichen Kanon an Erlebnissen auf. Dazu gehörten die Kontrollen an der Grenze oder die zwar freien, doch meist reservierten Plätze in den HO-Gaststätten. Manche, die wieder kamen, präparierten sich zuvor, „unser Klopapier war so rau, dass Westbesuch eigenes mitbrachte“.